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Bedrohen Digitalisierung und KI das Menschsein?

Noch vor ein paar Tausend Jahren war der Mensch als Jäger und Sammler mit Holzspeeren unterwegs. Heute verändern Künstliche Intelligenz, Biotechnologie und der Digitalkapitalismus das Menschsein in Rekordzeit. Wir sind zum Mond geflogen, wir haben den Code unserer Gene geknackt und wir haben mit dem Internet ein weltumspannendes Informationsnetz geschaffen, das jeden mit jedem und gleichzeitig mit allen zur Verfügung stehenden Informationen verbindet. Die nächsten Jahre werden sicher eine Bewährungsprobe: Wie gehen wir mit all diesen Herausforderungen, die zugleich auch Chancen sind, um? Verlieren wir uns dabei selbst? Wie können wir Freiheit und Individualismus bewahren? Es liegt an uns, dass daraus keine Zerreißprobe wird.

In der Gegenwart geht es nicht mehr primär um die Industrialisierung und den Ersatz des Menschen als Arbeitskraft durch die Maschine, sondern immer mehr um den vermeintlichen Ersatz des Individuums, des Denkens selbst durch Künstliche Intelligenz. Der Mensch wird natürlich nicht von Computern oder Algorithmen unterworfen, sondern er unterwirft sich ihnen freiwillig. Wir vertrauen immer mehr auf eine Technik, die wir als Einzelne immer weniger verstehen.

Irgendwie hat man das Gefühl dabei, dass sich der Mensch seiner Selbst schämt angesichts der Technik, die er für maßlos überlegen hält. Das kann im äußersten Fall sogar so weit gehen, dass dies den Wunsch begründet, selbst so perfekt wie eine Maschine zu sein. Ein neuer Glaube an Götter, die wir selbst erschaffen, scheint zu entstehen. 

Der Mensch mit seiner Willensfreiheit ist Mittelpunkt des Seins und nicht eine ominöse Vorstellung von Technik.

Von der Industriezivilisation mit Erdöl als Triebfeder – mit dem Auffinden der ersten ergiebigen Ölquelle im Jahre 1859 – bis hin zur Informationszivilisation mit der ersten funktionstüchtigen programmgesteuerten binären Rechenmaschine 1941 und dem Start des Internets als Arpanet 1969 war es nur ein kurzer Zeitsprung. Das »Schwarze Gold« hatte eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte ausgelöst – alles, womit wir heute leben und arbeiten, hat irgendwie etwas mit Erdöl zu tun. Das Öl hat eine neue Weltordnung geschaffen, die bis heute anhält. Die exzessive Nutzung von Erdöl wird als einer der Hauptgründe für den Klimawandel angesehen. Die Menschheit hat es geschafft, im Äquivalent gleich mehrere »Vulkane« laufen zu lassen – in Dauerschleife. Es ist scheinbar typisch für uns Menschen, dass wir Maß und Balance nur schwierig einhalten können. Die Massenproduktion im Industriekapitalismus auf Kosten der Natur gipfelt nun in der Ausbeutung persönlicher Daten, dem regelrechten Ausschlachten privater Daten und den daraus erwachsenden Bedrohungen für die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Dies hat das Potenzial, die innere Natur des Menschen zu zerstören.

Unser persönlicher Datensatz, also das neue »schwarze Gold«, welches Google, Facebook und Co. gar so emsig an allen Ecken und Enden aufsaugen, wird zur existenziellen Bedrohung unserer individuellen Einheit, unserer personalen Integrität und damit zur Gefahr für unser Ich, für den Kern unseres Menschseins. Wir haben mittlerweile einen zweiten Schatten, er ist digital. Er ist so messerscharf in der Darstellung unserer Persönlichkeit durch unser Nutzerverhalten, dass nicht selten inzwischen von einer digitalen Identität gesprochen wird. Die aktuelle industriell-digitale Revolution hat uns dabei selbst als Produkte entdeckt. Unsere digitale Identität ist als Massenprodukt geschaffen worden, von Google, Facebook, Amazon und Konsorten. Wir sind die Kunden; und die Produkte sind – wir selbst. Der Kapitalismus hat sich verändert. Zunächst ging es um Profite aus dem Handel mit Produkten, dann aus Dienstleistungen, schließlich aus Spekulationen und jetzt geht es um Profite aus der Überwachung bzw. Analyse unserer persönlichen Daten. Heutzutage haben wir dabei abstrakte Gefahren. Im sogenannten Überwachungs- bzw. Datenkapitalismus werden menschliche Erfahrungen zu Marktgütern gemacht. Das hört sich erst einmal harmlos an – das Gegenteil aber ist der Fall. Der Datenrohstoff daraus führt nämlich in gewisser Weise zur Kontrolle unserer Zukunft – Verhaltensdaten der Nutzer werden auf vorhersagekräftige Muster analysiert.

Die gigantischen Kräfte der Künstlichen Intelligenz, des Datenkapitalismus und des Digitalismus müssen gezähmt werden. Sie müssen auf eine Art und Weise gezähmt werden, dass sie die menschliche Freiheit unterstützen und fördern. Es geht also um den Grundsatz, vom Individuum her auf das Kollektiv zu denken, und nicht umgekehrt. Insbesondere Individualrechte, Partikularrechte und – nicht zu vergessen – die Privatheit sind die Wiege der Demokratie, der Freiheit und der Zivilisation. Eine schrittweise Auflösung der Individualrechte, indem wir die Kontrolle über uns abgeben, weil es bequem ist, birgt die Gefahr des Verlusts von dem, was uns als Zivilisation ausmacht: freie und selbstbestimmte Menschen in kooperativer Verantwortung. Niemand konnte ahnen, was die Digitalisierung zur Folge haben würde, dass wir heute, knapp 70 Jahre später, mit unseren Smartphones und dem Internet geradezu verwachsen sind. 

Heutzutage ist es in vielen Regionen der Welt einfacher, an ein Smartphone zu kommen als an sauberes Trinkwasser.

Die unglaubliche Erhöhung der Rechen- und Leistungskapazität hat die Digitalisierung in jeden Aspekt unseres Lebens einschleichen lassen. Es ist ein Merkmal dessen, was der digitale Fortschritt bedeutet: Einerseits werden für das Individuum unglaubliche Kräfte freigesetzt, die Leben und Arbeiten vollkommen verändern; gleichzeitig ist unsere Abhängigkeit von der Digitalisierung inzwischen so absolut, dass wir nur noch die wenigsten Tätigkeiten im Leben ohne diese Technik ausüben wollen oder können. Natürlich wird uns die Künstliche Intelligenz Türen öffnen, die wir jetzt noch gar nicht sehen können. Die Menschheit wird ihr eigenes Potenzial vervielfachen. Der Mensch muss dabei aber stets selbstbestimmt und frei bleiben. Technologie muss als Gehilfin des Menschseins verstanden werden. 

Im »Informationszeitalter« laufen wir zudem Gefahr, an Informationen so gefesselt zu werden – »wir informieren uns zu Tode« –, dass sie, statt uns zu bereichern, uns Lebenszeit wegnehmen, wenn wir meinen, alles wissen zu müssen, was uns dargeboten wird. Im digitalen Informationszeitalter werden wir regelrecht überflutet mit widersprüchlichen Nachrichten, die uns oftmals den Mut rauben, eine eigene Meinung zu bilden und diese dann auch offen zu vertreten. Leichter ist es natürlich, eine andere Meinung zu »liken« oder eben einfach nur stumm und »erschlagen« dazusitzen. Hinzu kommt noch das Dauerfeuer aus banalem Unsinn – online jede einzelne Sekunde. Alle wollen unsere Aufmerksamkeit wie auf einem billigen Jahrmarkt erheischen und das in einer Taktung, die uns krank zu machen scheint. Insbesondere Fake News und ihre inflationäre Verbreitung gefährden zunehmend auch unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität unserer Demokratie. Es ist dabei sicherlich auch nicht hilfreich, dass viele Menschen heutzutage allein vor ihren technischen Geräten wie Smartphone oder Laptop sitzen und in den sozialen Medien eine vermeintlich optimierte Version ihrer Selbst kreieren – und sich dabei abgekapselt in digitalen Echokammern und Filterblasen „gemütlich“ wie zu Hause fühlen – in einer zweifelhaften Ersatzheimat. Die Lösung für die Informationsflut wird erst recht die Digitalisierung sein, indem mit Künstlicher Intelligenz und Filtern noch stärker gearbeitet werden muss als bisher.

Wer aber die Algorithmen und die Filter beherrscht, beherrscht letztendlich das Geschehen. 

Unsere innere Freiheit wird mehr denn je benötigt. Es gibt keinen Bereich des Lebens mehr, der nicht mit dem Internet verbunden ist. Es wird alles archiviert und nichts vergessen. Dadurch ist aber auch vielleicht nichts mehr wirklich von Wert. Die Digitalisierung der Persönlichkeit als Konsumware ist längst Realität geworden. Wichtig ist, sich dabei nicht selbst zu konsumieren, indem man sich auf der Suche nach sich selbst buchstäblich aus den Augen verliert. 

Um dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen, ist es bei Weitem nicht ausreichend, die Welt ständig weiter ohne »Geistiges Band« in ihre Einzelteile – in ihre Datensätze – zerlegen zu können. Es gilt, auch unser Denken, Fühlen und Handeln wieder miteinander zu verbinden und in Einklang miteinander zu bringen.

Mystik als Initialzündung eines neuen Denkens

»Lernen ist Erfahrung. Alles andere ist einfach nur Information.« So hat es Albert Einstein ausgedrückt.

Mystik bedeutet Einheitserfahrung, reines visionäres Sehen ist damit übrigens nicht gemeint. Das ist ein wichtiger Unterschied, denn gerne wird der Begriff »Mystik« damit verbunden. Die Definition von Mystik als Einheitserfahrung geht auf Dionysius Areopagita zurück, der diesen Begriff geprägt hat. Durch die Einheitserfahrung, die Transzendenzbezug bedeutet, ist überhaupt erst Selbsterkenntnis – »Ich erkenne mich« – möglich. Durch den Bezug zum Bereich des Objektiven kann man sich selbst relativieren oder eben objektivieren. Man könnte es auch so formulieren, dass jeder Einzelne dadurch seinen Platz in der Welt findet und ihm auch dadurch ein glückliches Leben möglich ist. Der Vorgang des sich Relativierens geschieht nicht in der mystischen Erfahrung selbst, sondern bei deren Reflexion. Das Nachdenken über seine Erfahrung ist dann die Domäne der Vernunft oder der Philosophie; das könnte dann als Erkenntnis bezeichnet werden.

Der platonische Sokrates beschrieb die Seele als das Organ, in dem ein solches Erkennen überhaupt erst möglich ist. So ist das Wort »Seele« zu verstehen – als »das Leben des Geistes«. In der Antike und bei den christlichen Mystikern wurde die Seele als ein Ort bezeichnet, wo dieser Erkenntnisprozess stattfindet. Die Wahrnehmungssphären der Mystik hingegen sind Staunen und Affektivität. Affektivität meint Stimmung oder Gemütsverfassung, in welcher mystische Erfahrungen stattfinden können. Aber auch die Wortbedeutung von Begierde und Leidenschaft wird der Beschreibung von Mystik gerecht. Es ist hier nicht von einer Begierde die Rede, wie wir sie von unserem materiellen Leben her kennen, denn die mystische Erfahrung findet nicht auf einer Ebene statt, die verstandesmäßig erfasst werden kann. Diese Begriffsbedeutungen müssen in diesem Zusammenhang auf einer transzendenten Ebene verstanden werden. Und schließlich ist das Staunen ein ganz zentraler Begriff in der Wissenschaft. Aber zunächst verbinden wir mit dem Zustand des Erstauntseins nicht Wissenschaft und Philosophie. Jeder hat diesen Zustand schon erlebt und weiß, dass er nichts mit Denken oder Verstand zu tun hat. Er hat mit Ergriffenheit zu tun, er hat damit zu tun, dass man sich wie ein Kind fühlt, das von etwas Unbegreiflichem überwältigt ist. Sowohl Platon – »Es ist gar sehr einem Philosophen zu eigen jenes Erleben, das Erstaunen; es gibt nämlich überhaupt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen«[1] – als auch Aristoteles – »Denn aufgrund des Erstaunens begannen die Menschen sowohl jetzt wie auch zuallererst mit dem Philosophieren«[2] – setzten das Staunen als Ursprung von Philosophie überhaupt. Für den deutschen Philosophen Martin Heidegger bedeutet Philosophie, das Selbstverständliche in seiner Fragwürdigkeit zu entdecken.

»Nur wenn wir πάθος (páthos) als Stimmung (dis-position) verstehen, können wir auch das θαυμάζειν (thaumázein), das Erstaunen näher kennzeichnen. Im Erstaunen halten wir an uns. Wir treten gleichsam zurück vor dem Seienden – davor, dass es ist und so und nicht anders ist. Auch erschöpft sich das Erstaunen nicht in diesem Zurücktreten vor dem Sein des Seienden, sondern es ist, als dieses Zurücktreten und An sich halten, zugleich hingerissen zu dem und gleichsam gefesselt durch das, wovor es zurücktritt. So ist das Erstaunen die Disposition, in der und für die das Sein des Seienden sich öffnet. Das Erstaunen ist die Stimmung, innerhalb derer den griechischen Philosophen das Entsprechen zum Sein des Seienden gewährt war.«[3]

Das Staunen beschreibt das Ergriffensein, das Zurücktreten vor etwas rational Ungreifbarem, es geht einher mit Affektivität, und in diesem Moment, wo scheinbar die Zeit stillsteht, findet Erfahrung statt. Das Staunen steht am Anfang jeglicher Erkenntnis.

Werner Heisenberg hatte während eines Erholungsurlaubs auf Helgoland 1925 eine »Erleuchtung«, wie er es selbst beschrieb, und mit dieser Erfahrung, die er dabei machte, nahm seine Arbeit über Quantenmechanik überhaupt erst Gestalt an. »In Helgoland war ein Augenblick, in dem es mir wie eine Erleuchtung kam, als ich sah, daß die Energie zeitlich konstant war.«[4]* Dies ist nur ein – in diesem Fall bekanntes – Beispiel dafür, dass mystische Erfahrung nicht nur in religiösen Zusammenhängen stattfinden muss, sondern in allen Bereichen gemacht werden kann. Durch die Erfahrung, die gemacht wurde, erlebt man einen kleinen Quantensprung – vielleicht sogar im wahrsten Sinne des Wortes.

Wenn Heidegger vom Selbstverständlichen spricht, beschreibt er die eigentliche Aufgabe der Philosophie: Sie denkt über das Selbstverständlichste und Alltäglichste nach, nämlich über das Sein an sich und alles, was darunter verstanden wird: die Existenz des Menschen, die Natur, das Übersinnliche, kurz: über Gott und die Welt. Und die Ursache des Denkens ist laut Heidegger die Stimmung des Erstauntseins, der Ursprung der Philosophie ist das Staunen, wie schon die obigen Zitate von Platon und Aristoteles es zeigen. Heidegger führt also das Denken auf die Stimmung des Erstaunens zurück. Dadurch kann sich das Denken wieder erneuern, oder auch neu geboren werden. Die denkursprüngliche Stimmung des Staunens muss wieder freigelegt werden, um ihre Möglichkeiten freizusetzen, um daraus eine Erneuerung des Denkens zu gewinnen.


[1] Platon: Theaitetos 155 d, S. 2 f

[2] Aristoteles: Metaphysik 982 b, S. 10-18.

[3] Heidegger: Was ist das, die Philosophie?, S. 26.

[4] https://hg-hh.de/schule/ueber-uns/werner-heisenberg, aufgerufen am 22.08.2023.

KI, Goethe und Alexa (ChatGPT)

Es ist eine der merkwürdigsten Denkweisen von uns Menschen, menschliche Intelligenz als Maßstab auf andere Konstrukte und Wesen anzuwenden, die gar nicht menschlich sind.

»Alexa[1] , erschaffe mir einen Dämon, den ich zu Gott und der Welt befragen kann.« So einfach hatte es der universalgebildete Dr. Faust in dem Werk von Goethe dann doch nicht. Faust sitzt in seinem Arbeitszimmer und will die Welt als Ganzes ergründen. Dabei beschwört er mit dunkler Magie einen Erdgeist, der schließlich mehr wissen müsste als Faust. Er will ihn gefangen halten und in die Mangel nehmen. Doch dieser hat die Rechnung ohne den Geist und das Wesen der Natur gemacht: Der Erdgeist macht sich über Faust lustig. »Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir« und lässt den Gelehrten wieder allein. Was war geschehen? Faust wollte etwas von einem Wesen erfahren, das er zwar beruft, aber nicht versteht. Die Natur hatte ihm ein Schnippchen geschlagen und ihm klar gemacht: Den Geist der Natur konnte er nicht mit der Intelligenz des Menschen vergleichen oder gar einfangen. Eigentlich wollte Faust den Prototypen einer künstlichen, einer »anderen« Intelligenz herbeibeschwören. Dumm nur: Er hatte keine Ahnung, um welche Intelligenz es sich dabei eigentlich handelte.

Faust ist frustriert und denkt an Selbstmord: Er verzweifelt – verständlicherweise – an der Juristerei, der Philosophie und der Wissenschaft, die ihn alle nicht weitergebracht haben. Die letzte Grenze will er durchstoßen, um herauszufinden: Was ist der Sinn des Lebens, was macht den Menschen aus? Was ihn rettet, ist das Kirchenläuten: »Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.« Und doch lässt er vom Gift, das er trinken wollte, ab.

Johann Wolfgang von Goethe gilt nach Martin Luther als der wirkungsmächtigste deutschsprachige Autor aller Zeiten. Seine Werke haben Einfluss auf die gesamte westliche Kultur. Goethe: Philosoph, Dichter, Gelehrter, Naturforscher, Jurist, Minister, Freimaurer, Illuminat. Er war eine der schillerndsten Figuren der Aufklärung. Mit seinen Gedanken und Ideen über das Leben und das Menschsein hat er revolutionäre und progressive Gedanken zu Papier gebracht. Am Faust hat er sein Leben lang gearbeitet, und viele andere Werke sind eingeflossen. Die Unterwerfung der Natur unter den menschlichen Willen war stets Thema seiner Arbeiten und kritischen Überlegungen. Und: Er befasste sich mit der Idee, was geschehen würde, wenn der Mensch eine künstliche Intelligenz erschaffen könnte. Und das, obwohl er nicht einmal wissen konnte, was Elektronik eigentlich ist und was man mit einem Computer alles Sinnvolles oder Sinnloses anstellen kann. Seine Idee war die einer künstlichen biologischen Intelligenz. Die Folge aber ist die gleiche: Der Mensch erkennt in einer anderen Intelligenz lediglich sich selbst. Die Gegenseite ist nicht das, was der Mensch erwartet hat.

»Deep Thought«, das ist der Supercomputer, der im Roman Per Anhalter durch die Galaxis die Erde selbst entwirft. Jahrtausende hatte er an der Antwort auf die Frage nach dem Leben und allem anderen ziemlich herumgekaut. Mit der Antwort »42« gab man sich nicht so recht zufrieden, sodass ein leistungsstärkerer Computer her musste: die Erde, ein Computer, der diese ungenau gestellte Frage an sich verstehen konnte. Ein Thema, das in unzähligen Romanen und Geschichten auftaucht. Künstlich geschaffene Intelligenz, computerbasiert, die unsere Fähigkeiten überflügelt und uns das Leben leichter oder zur Hölle macht, je nachdem, wie gut programmiert wurde.

Es ist eine der merkwürdigsten Denkweisen von uns Menschen, menschliche Intelligenz als Maßstab auf andere Konstrukte und Wesen anzuwenden, die gar nicht menschlich sind.


[1] oder neuerdings: „ChatGPT“

Auf den Spuren der Schwarzen Madonna

Viele Legenden und Mythen ranken sich um die Schwarzen Madonnen, deren Kult seinen Höhepunkt in Europa in der Romanik und Frühgotik fand. Ihre Blütezeit kann man auf das 11. bis 12. Jahrhundert definieren.

Was hatte die Menschen an diesen schwarzen Statuetten damals so fasziniert, dass ihre Kultstätten z.B. den gesamten Pilgerweg nach Santiago de Compostella säumten und noch säumen? Was macht sie so besonders und warum ranken sich so viele Legenden um sie?

Madonna im Rosenhag um1450

Die Antwort könnte man schon im ungewöhnlichen Aussehen der Schwarzen Madonna finden – denn sie ist ein Gegenentwurf zu den Mariendarstellungen, die ab der Renaissance vorherrschend waren. Diese stellten Maria als hübsches Mädchen, als Jungfrau dar, die einen Säugling auf dem Arm hält und meist einen verklärten Gesichtsausdruck hat. Ganz im Gegensatz zu den Schwarzen Madonnen.

Madonna von Saint-Gervazy, 12. Jh.

Charakteristisch für sie ist – neben ihrer  meist schwarzen Hautfarbe – der gerade, aufrechte Sitz, ihre übergroßen Hände, die das „Jesuskind“ zu schützen scheinen und ihr eher strenges, androgynes Gesicht – weibliche Rundungen fehlen. Die Schwarzen Madonnen sind fast immer aus Holz geschnitzt und sie sind niemals Ikonen. Das „Jesuskind“ ist kein Kind oder Säugling wie in den späteren Darstellungen. Auch steht nicht die Mutter-Sohn Beziehung im Vordergrund, denn sie schauen sich nicht an, die Madonna stillt ihn auch nicht. Der „kleine Mann“ sitzt auf ihrem Schoß, seinen Blick wie sie nach vorne gerichtet. Er hält meist Attribute der weltlichen (Weltkugel) oder spirituellen Macht (Bibel) in seiner Hand. Die Schwarze Madonna wird auch immer in der Blüte ihrer Jahre, als erwachsene Frau dargestellt – ganz im Gegensatz zu den späteren Darstellungen.

Mit am hervorstechendsten ist ihre schwarze Farbe. Warum ist sie schwarz? Natürlich gibt es etliche Madonnen, die erst viel später geschwärzt worden sind, als im 19. Jahrhundert so die Pilgerströme wiederbelebt werden sollten – was auch funktionierte. Auch wurden vor dieser Zeit originale schwarzfarbige Madonnen geweißt. Vielleicht geben die Orte ihres Kultes weiteren Aufschluss.

Diese sind fast ausschließlich vorchristliche Heiligtümer gewesen – wie wohl die Schwarzen Madonnen selber fast nie aus vorchristlicher Zeit oder aus dem Orient stammen, sondern in christlichen Skulpturenwerkstätten hergestellt wurden. Trotzdem sehen wir hier den vorchristlichen Bezug: Die heidnischen Plätze zeichneten sich immer durch einen heiligen Stein (Menhir oder Dolmen), einer Heiligen Quelle oder einem Heiligen Baum aus. Bei diesen Bäumen oder Büschen handelte es sich meistens um einen Schwarz- oder Weißdorn oder eine Stechpalme. Diese Pflanzen hatten immer einen Bezug zur Unterwelt, denn sie waren der Unterweltgöttin Hel zugeordnet. Viele vorchristlichen Göttinnen bzw. Göttinnen aus anderen Kulturkreisen waren schwarz, zu nennen wäre die Göttin Kali oder die Schwarze Annis (keltisches Äquivalent zur Göttin Hel). Die Farbe Schwarz steht archetypisch für Transformation, für Neubeginn, für den Beginn aller Möglichkeiten. Hier findet man den alchemistischen Bezug zu dieser Farbe. In diesem alchemistischen Zusammenhang ist auch die Schwärzung der Seele als wichtiger Prozess der Erneuerung zu sehen. Auch steht diese Farbe als Symbol eher weiblicher Initiationsriten: Der Abstieg in sein Innerstes, der Abstieg in die Unterwelt, das rituelle Sterben (Abstieg in die Unterwelt zur Göttin Hel, was sich im Märchen von Frau Holle widerspiegelt) als unverzichtbarer, schwieriger Schritt auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und Vervollkommnung. Schwarze Madonnen sind bzw. waren häufig in den Krypten von Kathedralen zu finden, das kann man durchaus als symbolischen Abstieg in die Unterwelt deuten.

Die Schwarze Madonna war kein Import der Tempelritter, wie manchmal angenommen wird. Allerdings wurden tatsächlich einige Statuen aus dem Orient zu Zeiten der Kreuzzüge nach Europa gebracht, wo dieser Kult schon seinen Höhepunkt erreicht hatte. Auch gibt es keinen direkten Zusammenhang zu Maria Magdalena, obwohl es in Frankreich viele Kirchen gab, die ihr geweiht waren. Die Templer waren große Verehrer von Maria Magdalena – und auch der Schwarzen Madonna. Vielleicht hat es in dieser Zeit auch eine Überschneidung der Verehrung gegeben. Die Kirchen, die Maria Magdalena geweiht waren, wurden mit dem Verschwinden der Templeritter sukzessive „umgeweiht“, auch der Kult um die Schwarze Madonna hatte zu dieser Zeit seinen Niedergang.

Es gab schon vor den Kreuzzügen regen Austausch mit dem Orient – Pilgerfahrten waren nicht ungewöhnlich und halb Spanien war maurisch. Außer Acht lassen darf man außerdem nicht, dass seit der Spätanike der gesamte römisch-hellinistische Raum ein kultureller und religiöser Schmelztiegel war. Außer dem aufkommenden Christentum existierte neben den keltisch-germanischen Kulten der Isis-Kult, Artemis (Diana)-Kult und Demeter-Kult, Mithras-Kult, Merkur- und Apollo-Kult, um nur einige zu nennen. Auch spielten die ursprünglichen keltisch-germanischen Kulte der Großen Mutter eine entscheidende Rolle, die durch diesen Austausch integriert und miteinander verschmolzen wurden.

Deshalb ist es lohnenswert, einen Blick in den orientalischen Raum zu werfen, denn es finden sich erstaunliche Parallelen zwischen dem Kult der Schwarzen Madonna und dem Isis-Kult.

Isis galt als Souveränin ihres Landes und wurde mit diesem gleichgesetzt – somit repräsentierte sie als chthonische Göttin das beständige, immerwährende Prinzip – während Osiris die Vergänglichkeit darstellte – die Vegetation, die alljährlich durch die Nilschwemme zum Leben kommt und durch die Dürre – repräsentiert durch seinen Bruder Seth – dahingerafft wird. Ägypten wurde als „Schwarzes Land“ (khemet) bezeichnet – somit war Isis – symbolisch gesehen – auch schwarz.

Parallelen sieht man bei der Innana-Ishtar-Mythologie: Der Abstieg in die Unterwelt der Innana gleicht einer Initiation, einem (rituellen) Tod, dem ein geläuterter Aufstieg als Neubeginn in der Welt der Lebenden folgt. Als Pfand oder Tribut für die Unterwelt wird vereinbart, dass der Gefährte der Göttin einen Teil des Jahres in der Unterwelt verbringt. Der Gefährte steht – wie Osiris – für Vegetation – so sind dem Mythos nach die Jahreszeiten entstanden. Dieser Mythos spiegelt sich sowohl in der Demeter-Sage wider (ihre Tochter Persephone verbringt einen Teil des Jahres in der Unterwelt), als auch in der keltischen Glaubenswelt: Die Große Göttin erwählt für die Vegetationsperiode einen Gefährten (Grüner Mann oder der Gehörnte), der am Ende dieser einen rituellen Tod sterben muss. Dieser Gefährte ist für diese Zeit – wie auch Osiris – der König.

Göttinnen dieses Kulturkreises, z.B. die altassyrische Göttin Anat, Isis, Artemis (Diana) galten auch als Jungfrauen, bzw. sie verloren niemals ihre Jungfernschaft, obwohl z.B. Anat Geliebte aller Götter war oder als Jungfrau die Gottesgebärerin (Isis).

Auch die von Bernard von Clairvaux definierten Titel der Schwarzen Madonna – Stella Maris, Sedes sapientiae und Regina coeli (Stern der Meere, Sitz der Weisheit, Himmelsgöttin) sind Bezeichnungen, die Isis inne hatte (Isisverehrung in Heliopolis). Diese Begriffe wurden ab dem 3. Jh. n. Chr. von Origines auf Maria übertragen, bis dahin kannte kein Kirchenvater ihre dauernde Jungfernschaft. Ab dem Konzil von Ephesos 431 n. Chr. war Maria offiziell „Gottesgebärerin“ und „Gottesmutter“. Diese Titel scheinen also keinen christlichen Ursprung zu haben, denn es ist auch in der Bibel von keiner besonderen Verehrung von Maria die Rede.

Der Isis-Mythenzyklus ist seit dem 5. Jahrtausend. v. Chr. belegt – als Kult dauerte er bis ins 6. nachchristliche Jahrhundert und war in der gesamten hellenistisch-römische Welt verbreitet. Dadurch wurde Isis zu einer allumfassenden transkulturellen Weltgöttin und ihre Theologie hatte universalen Charakter.

Der Isis-Osiris-Kult wurde zu allen Zeiten in Ägypten ausgeübt, wobei Isis als volkstümliche Göttin von allen Bevölkerungsschichten und v.a. von Frauen verehrt wurde – der Osiris-Horus-Kult war den Pharaonen vorbehalten. In der ägyptischen Spätzeit änderte sich das und der Isis-Kult bekam den Charakter einer Erlösungsreligion mit der Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod bei Osiris für alle Menschen. Isis war die Beschützerin und Ernährerin, sie wurde wegen ihrer Mütterlichkeit verehrt. Die ihr dargebrachten Gebete ähneln sehr den Mariengebeten. In der späteren Isisreligion gab es Offenbarungen, feste Traditionen, Exerzitien, Fasten, Andachtszeiten, eine alle  Tempel umfassende Kirchenorganisation – und es gab keine sozialen oder ethnischen  Unterschiede. All diese Attribute finden sich auch in der Organisation der christlichen Kirchen wieder.

Madonna v. Orcival, 12. Jh.

Isis und Osiris

Isis bedeutet „Thronsitz“ (altägyptisch: Aset). Schon seit dem Alten Reich wurde Isis als diejenige dargestellt, die den König legitimiert: Wer auf dem Thron resp. auf ihrem Schoß sitzt, ist Pharao.

Plutarch (1. bis 2. Jh. n. Chr.) sah in dem Namen Isis die griechischen Wurzeln für Weisheit. Somit hatte er dem Begriff „Thronsitz“ mit dem Attribut „Weisheit“ als „Sitz der Weisheit“ (Sedes sapientiae) eine neue Bedeutung gegeben.

Auch die Titel „Stella Maris“ und „Himmelskönigin“ für Maria sind Bezeichnungen, die vorher neben Isis auch Astarte, Innana – Ischtar (sie wurde immer mit einem Stern dargestellt) wie auch Venus und Aphrodite inne hatten. Diese Göttinnen galten auch als Beschützerinnen der Seefahrer –  ein weiteres Attribut, welches in späteren Zeiten Maria zugeschrieben wurde.

Man kann also durchaus sagen, dass der „Archetypus“ der Schwarzen Madonna aus europäischen und ägyptisch-orientalischen Einflüssen entstanden ist. Der Kult ging wahrscheinlich von den vorchristlichen Isis-und Artemis-Kulten (die wahrscheinlich mit dem keltischen Kult der Großen Mutter vermischt wurden) mit dem aufkommenden Christentum eine Art Synergie ein: Man nannte diese Statuen zwar Madonnen, aber die meisten hatten erst einmal nichts christliches an sich, außer bei einigen die Bibel, die das „Jesuskind“ in einer Hand hält. Ihr gesamtes Erscheinungsbild ähnelt am ehesten der Isis, auf deren Schoß Osiris sitzt und die ihn mit ihren Händen oder auch Flügeln beschützt – Osiris oder Jesus als von ihr legitimierter König der Menschen.

Das Erbe der Freiheit – das humanistische Menschenbild

Wer nicht weiß, woher er kommt, kann nicht wissen, wohin er geht. Wir finden den Ursprung unseres Weges in Europa in unserer abendländischen Kultur. Es ist eine griechisch-römische und jüdisch-christliche Kultur, die ihren folgerichtigen Übergang zu Freiheit, Menschenrechten und Demokratie durch die Aufklärung fand. Respekt vor der gleichen Würde jedes Menschen und sozialer Zusammenhalt, im Geist von gegenseitigem Vertrauen und Nächstenliebe, bilden den Kern. Das sind fundamentale und auch universale Werte. Es lohnt sich, diese Werte auch in Zukunft zu leben. Der Humanismus ist dabei keine Selbstverständlichkeit. Er muss gelebt werden, ansonsten kann das einzigartige Menschenbild verschwinden. Der griechische Philosoph Platon sprach von der Idee des Menschen und biblisch lässt sich das mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen ausdrücken. In der Gottebenbildlichkeit liegt die theologische Begründung der Menschenwürde – insbesondere seit dem Renaissance-Humanismus – und ideengeschichtlich stellen die Gottebenbildlichkeit und die daraus ableitbare Menschenwürde eine Basis für die Entstehung der Menschenrechte dar. Damit ist auf einer gewissen Abstraktionsstufe ein Begriff geprägt, der menschliches Handeln und Ordnung miteinander verknüpft und damit Recht, Moral, Staat und Weltbild auf eine gemeinsame Grundlage stellt. Diese Idee als Inbegriff aller Normen, Verpflichtungen und Axiome, die das menschliche Leben in den sozialen und politischen Ordnungen des Zusammenlebens steuern, deckt sich mit dem, was auch humanistisch abendländische Kultur genannt werden könnte. Als einen wesentlichen Entwicklungsschritt und Höhepunkt unserer Kultur beziehungsweise der europäischen Geistesgeschichte und des sich daraus entwickelnden Humanismus erkennen wir immer noch die Zeit der Renaissance und der Aufklärung an. Sie leitete letztlich die Geburt der Revolutionen für mehr Freiheit und Menschenrechte ein. Nicht umsonst steht die Würde des Menschen an erster Stelle im deutschen Grundgesetz.

Es ist und bleibt immer die gleiche Herausforderung: Wie wird Humanismus gelebt? Der zentrale Schlüsseltext für das Humanismus-Verständnis stammt von dem Renaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola. Es war eine Rede unter der Überschrift „De hominis dignitate“ („Über die Würde des Menschen“), die er 1486 verfasste und in der er die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Welt stellte und die Willensfreiheit als charakteristisches Merkmal des Menschen hervorhob. Jede Generation muss sich damit auseinandersetzen und unter ihren Vorzeichen damit umgehen:

»Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.«

Gottvater, der hier spricht, hat dem Menschen nicht den freien Willen überlassen, sondern umgekehrt – er hat dem freien Willen den Menschen überlassen. Was kann diese ungewöhnliche Formulierung bedeuten? Den freien Willen bestimmt nicht einfach so der Mensch, sondern er unterstellt sich diesem. Hört sich paradox an, ist es aber nicht, obwohl schwer mit dem Verstand greifbar. Freier Wille bedeutet also nicht, der Mensch kann tun und lassen, was er will und wie es ihm beliebt oder dass er sich als »Übermensch« über alle und alles erhebt; er könnte es natürlich schon, dann entwickelt er sich aber nach »unten«. Die Idee ist deshalb wahrscheinlich eine andere. Es könnte viel mehr bedeuten, sich seinem freien Willen zu unterstellen, diesen immer wieder durch Arbeit an sich selbst, durch (Selbst)reflexion, zu erarbeiten und zu prüfen. Diese Entscheidung verwirklicht sich in seinem Tun und Wirken, wie es bei dem sokratischen Dialog aufgezeigt wird. Dabei geht es um einen tiefen Blick in sein Innerstes. Meinungen und Glaubensinhalte sollen hinterfragt und der Mensch soll sich seiner Unwissenheit bewusst werden. Dabei sollen wir also unser Wissen weiterentwickeln und uns unserem eigentlichen Wesen annähern. »Dir selbst deine Natur bestimmen«, wie es in Picos Rede heißt, ist damit gemeint. Dieser Weg bringt uns schließlich dazu, eigenständig zu denken und unsere Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Nach Aristoteles entwickelt sich der höchste Sinn des Lebens aus dem tugendhaften Handeln im Alltag. 

Die Fragen nach dem richtigen Leben und dem Glücklichsein stellen sich seit der Antike, eigentlich seit dem Beginn der menschlichen Zivilisation. Der Quantensprung des antiken Griechenlands, der verblüffender Weise auf nur wenige kluge Köpfe zurückzuführen ist, bildete das Fundament dessen, was uns heute ausmacht. Ohne dieses würde es heute keinen Humanismus, keine Menschenrechte und keine Demokratie geben.

Das Menschsein wird immer in Bewegung sein. Hier wird unser Blick für das geöffnet, was uns ausmacht und was unser innerstes und ureigenstes Bestreben ist. Das Bestreben, stets an sich zu arbeiten und morgen ein besserer Mensch zu sein als gestern, ist nichts anderes als das ewige Streben nach einem unerreichbaren Ideal. So wenig wie ein Mensch vollkommenes Glück erringen kann, so unmöglich ist es ihm, in allen Belangen perfekt zu sein. Beiderlei Streben sind jedoch der Weg, um glücklich zu leben.

Die Tugenden sind Werkzeuge, um diesen Weg beschreiten zu können. Mit ihnen schnüren wir unsere Wanderstiefel zu, ziehen den Reißverschluss der Jacke bis an die Nasenspitze hoch und treten zuversichtlich jedem Sturm am Horizont entgegen, der da kommen mag.

Vom Fort-schritt von der Mitte

Ist uns eigentlich schon aufgefallen, dass wir in den letzten 100 bis 200 Jahren lauter Erfindungen gemacht haben, die Zeit sparen (sollen), wie Telefon, Telegraph, Telex, Telefax, Eisenbahn, Automobil, Computer, Internet, Künstliche Intelligenz, etc., dass wir aber so gut wie alle sehr viel weniger Zeit haben als die Menschen, die vor diesen Erfindungen lebten?

Allein der Digitalkapitalismus überfordert uns bereits heute: zwischen Massen an Informationen, Daten und virtuellen Welten geht der Blick für das Wesentliche verloren. Wir verlieren uns selbst zwischen Konsum und gesellschaftlichem Wandel.

In diesem Spannungsfeld stellen sich die entscheidenden Fragen: Was macht mich als Menschen einzigartig? Was hat uns zu dem gemacht, was wir sind? Was sind wir morgen? Woher komme ich, wohin gehe ich? Und: Wie bleibe ich frei und selbstbestimmt? Wir müssen uns als Einzelne und als Gesellschaft neu verorten: Im Mittelpunkt allen Handelns steht das Individuum, mit allen Rechten und Pflichten. Gleichberechtigt und bereit, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.

Erschwerend kommt aktuell hinzu, dass sich unsere Welt noch nie so schnell verändert hat wie in den letzten zwei Jahrhunderten – und das Tempo nimmt noch an Fahrt auf. Betrachten wir nur die letzten zwei bis drei Jahrzehnte, was Internet und Mobilfunk mit uns angestellt haben – in weniger als einer Generation. Fest steht: Arbeit wird zunehmend automatisiert, Geld virtualisiert und ganz allgemein steht uns eine Künstliche-Intelligenz-Revolution bevor. Alles Bewährte, Bekannte und Gewohnte scheint hier regelrecht zu verdampfen. Irgendwie hat man den Eindruck, dass wir die Fliehkräfte austesten wollen – mit ungewissem Ausgang. Strukturen wie beispielsweise Familie und Kirche haben massiv als Orientierung und als Rückhalt an Bedeutung verloren und neue sind nicht wirklich in Sicht. Die Frage nach Identität und was menschliches Dasein wirklich bedeuten kann, rückt verständlicherweise mehr denn je in den Mittelpunkt.

Im sogenannten „Informationszeitalter“ werden wir an Informationen so gefesselt, dass sie uns Zeit wegnehmen, wenn wir meinen, alles wissen zu müssen, was uns dargeboten wird.

Es braucht einige Zeit, um sich von solchen Gewohnheiten zu lösen, die zu Zwängen geworden sind, und ferner zu erkennen, dass Informationen nicht dasselbe sind wie heilsames Wissen oder gar Weisheit.

Heute suchen viele Menschen wieder dieses verlorene Verweilen, das zugunsten einer angeblichen „schöpferischen Unruhe“ aufgegeben worden ist. Diese endet, wenn sie nicht weiß, was sie tun soll, im Aktionismus. Da das Getane nicht sinnvoll ist und nur dafür sorgt, in Bewegung zu bleiben, ist es lediglich ein Rennen, ein Davonrennen, ein Rasen. Es sind viel weniger die Sachzwänge als wir selbst, die uns hetzen, zum Fortschritt zwingen. Fortschritt ist ein verkanntes, aber verräterisches Wort, denn hier wird nicht auf ein Ziel zugeschritten, sondern von etwas – wohl von der Mitte, die der Meditierende wieder sucht – „fort“ geschritten. Die Ambivalenz dieses „Fortschritts“ ist uns trotz aller hilfreichen Erfindungen langsam klar geworden.

Aber die Ursachen, besser der Verlust jener Mitte, jenes Grundes, von dem wir uns dabei entfernen, sind noch lange nicht erkannt – und auch in der Tat schwer zu erkennen, wenn man sie zu Wort bringen will. Sie liegen auch tief im technisch-naturwissenschaftlichen Denken verborgen, das uns so viel Erfolge auf einer bestimmten Ebene gebracht hat, aber die Welt in einer Weise vergegenständlicht, entseelt und entmenschlicht, dass sie leer und öde wird, nicht nur gottlos („Gott ist tot“), sondern „tote Materie“, eine Summe von „Stoffen und Kräften“, die wir durch Erkenntnis der „Ursachenketten“ nach Belieben berechnen und manipulieren können, so dass sie uns außer Zahlen und Fakten „nichts mehr zu sagen“ haben und die Dichter, die sie einst besangen, vermeintlich im Unwirklichen herumphantasieren, welt- und realitätsfremd sind.

Johann Wolfgang von Goethe scheint unser rasendes Informationszeitalter vorausgeahnt zu haben, als er in seinen „Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten“ dichtete:

„Mich ängstigt das Verfängliche
Im widrigen Geschwätz,
Wo nichts verharret, alles flieht,
Wo schon verschwunden, was man sieht;
Und mich umfängt das bängliche,
Das graugestrickte Netz.“

Der Preis für die großartigen Erfolge und all die Macht, die wir heute durch Technik und Naturwissenschaft haben, ist hoch, sehr hoch. Jedenfalls solange nicht deren Wesen erkannt wird und damit deren Grenzen gesehen werden. Nur so lassen sie sich wieder in ein menschlicheres, nicht nur kausales und funktionales Weltverständnis von der „großen Weltmaschine“ einbetten.  Es geht nicht darum, Technik und Naturwissenschaft zu leugnen oder abzuschaffen – wir brauchen sie –, aber im Hegel’schen Sinne sollten wir sie „aufheben“, also zugleich überwinden und bewahren.

Es ist Zeit für eine zweite Aufklärung.

Das Religiöse Zusammenleben der Albaner

von Mimoza Ahmetaj, Ministerin a.D. und ehem. Botschafterin

Mimoza Ahmetaj war Mitunterzeichnerin der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, Ministerin für EU-Integration in der Republik Kosovo und langjährige Botschafterin in Straßburg und in Brüssel bei der EU und der NATO. Ihre Schwerpunktthemen sind Außen- und Sicherheitspolitik. Ihre Faszination für einen gelebten Humanismus vor dem Hintergrund einer europäischen Wertegemeinschaft spürt man deutlich in allen ihren Reden und Vorträgen. Mimoza Ahmetaj ist Mitglied des Fachbeirats der Heidelberger Gespräche Gesellschaft.

Die Jahresabschlussveranstaltung in Straßburg anlässlich der Veröffentlichung des Buches zum fünften Jahrestag der Weihe und dem 111. Jahrestag der Geburt der Heiligen Mutter Teresa war eine Gelegenheit, um Licht in die Kultur und den Glauben des albanischen Volkes und des religiösen Zusammenlebens zu bringen. Albaner sind eines der wenigen Völker in Europa, die dieses „Mosaik der Religionen“, des Christentums in den westlichen und östlichen Riten und des Islam in seinen Kultformen besitzen. Sie koexistieren seit Jahrhunderten als gutes Modell für die heutige Welt.

Botschafterin a.D. Mimoza Ahmetaj hält eine Ansprache in der Kirche St. Mauritius in Straßburg anlässlich der Veröffentlichung des Buches zum fünften Jahrestag der Weihe und dem 111. Jahrestag der Geburt der Heiligen Mutter Teresa

Albaner, die als kulturelle Nachfahren der alten Illyrer gelten, gehören zu den ältesten Völkern Europas. Sie leben in sechs verschiedenen Ländern des Westbalkans (einschließlich Albanien, Kosovo und andere Länder), die neben der ethnisch-nationalen Identität auch eine eigene indoeuropäische Sprache haben.

Wenn wir die Geschichte des albanischen Volkes in Jahrhunderten analysieren, kann man schlussfolgern, dass das Überleben und das Zusammenleben dreier Religionen in Harmonie miteinander ein Wunder ist.

Religiöses Zusammenleben unter Albanern ist nicht heute entstanden, sondern existiert als solche seit Jahrhunderten und wird seit vorosmanischer Zeit vererbt. Albaner leben zusammen: Christen, Katholiken, Orthodoxe und Protestanten sowie Muslime und Bektaschis.

Christentum bei den Illyrern

Das Christentum in unserer Geografie wie in ganz Illyricum wurde durch den heiligen Apostel Paulus selbst und seinen Jünger Titus verbreitet, der das Evangelium zu unseren Vorfahren, den Illyrern, gebracht hat. Dies zeigt, dass die Illyrer zu den ersten Völkern im Mittelmeerraum und in Europa gehörten, die evangelisiert wurden und das Christentum annahmen.

Die frühesten Beweise für die Präsenz des missionarischen Christentums waren St. Flori und Lauri in Ulpiana, die während des Baus des römischen Tempels während der Herrschaft von Kaiser Trajan Steinmetze waren.

Das erste Dokument, das von der kirchlichen Hierarchie in Dardania spricht, ist das von Kaiser Konstantin dem Großen organisierte Erste Konzil, das Konzil von Nicäa im Jahr 325, mit dem kirchlichen Zentrum im antiken Scupi, später Ulpiana und heute Skopje.

Das vom römischen Kaiser Konstantin dem Großen einberufene und organisierte Konzil von Nicäa (325) erteilte auch das Edikt von Mailand (313) über die Religionsfreiheit der Christen, an dem auch der Bischof Dacus Dardaniae – Daku Dardanas teilnahm. Dies ist das Dokument der Existenz der Kirchenhierarchie in Dardania, dem heutigen Gebiet von Kosovo.

Nach der Gewährung der Religionsfreiheit blühte das Christentum in fast allen Ländern von „Illiricum sacrum“ und „Dardania sacra“ schnell auf, wo unsere Vorfahren lebten.

Der heilige Paulus erwähnt Illyricum, Epirus, Dalmatien und Mazedonien. Er schreibt: „So verbreite ich seit Jerusalem und um Illyrien das Evangelium Christi“ (Rom 15,19). An anderer Stelle schrieb er an seinen Schüler Titus: „Wenn ich Artem oder Tihik zu dir sende, nimm mich und komm zu mir nach Nikopolis, denn dort habe ich beschlossen, den Winter zu verbringen“ (Titus 3,12; vgl. Titus 3,7; 2 Tim 4, 10). Nikopolis war zu dieser Zeit die berühmteste Stadt von Epirus. Die Teile, in denen die Illyrer lebten, waren: Prevalitana, Epirus, Dardania und Mazedonien.

Bereits im Konzil von Nicäa (325), wo die Grundwahrheiten der christlichen Religion festgelegt wurden, glauben wir, waren zwei Bischöfe des damaligen Dardania und des heutigen Kosovo anwesend: Daccus Dardaniae, und der Bischof von Stobi, Budi Stobiensi, der aussagte überzeugend, dass das Christentum in diesen Gebieten bereits gut organisiert war.

Im Laufe der Jahrhunderte trugen bekannte albanische Papstnamen zur christlichen Lehre und ihrer Verewigung bei. Vom Heiligen Stuhl wurde bereits bestätigt, dass sechs Päpste albanischer Herkunft sind. Laut der Christlichen Enzyklopädie und dem genialen Werk von Daniel Farlati „Ilyricum Sacrum“ ist dokumentiert, dass es 6 albanische Päpste gab, die den Vatikan anführten, es sind der heilige Eleutherius, der heilige Urban I, der heilige Kai, der heilige Paul IV., der Papst Johannes IV., Papst Sisti V und Papst Clemens XI.

Auch Mutter Teresa kommt aus der albanischen Nächstenliebe. Monsignore Don Lush Gjergji, der Mann, der Mutter Teresa gut kannte und sie bei vielen ihrer Besuche begleitete, schreibt, dass es zwei einzigartige Quellen gibt, die Mutter Teresa beeinflusst haben:

1.
Die illyrische, arberische, albanische Nationaltradition und -erfahrung, in der Familie und in der Gemeinde, die auf diesen heiligen und bedeutsamen Grundsätzen basiert: „Brot, Salz und Herz“, und: „Das Haus gehört Gott und dem Gast“; „Ohne Ältere und Kinder gibt es kein Zuhause”.

2.
Sowie die Erfahrung und das Leben der christlichen Liebe in der Familie und in der Pfarrei ist die Botschaft Jesus, der sich mit jedem Menschen identifiziert: „Was du für einen meiner jüngeren Brüder tun wirst, tust du für mich“ (Mt 25, 40).

Seiner Meinung nach war Mutter Teresa Liebe in Aktion. Sie ist Paradigma von Interkulturalität, Austausch und universellem Reichtum.

Der Übertritt zum Islam …

Ab dem Ende des Mittelalters begann der Islamismus eines Teils der Albaner. Mit der Ausbreitung des Islam in den albanischen Gebieten während der osmanischen Herrschaft wurde die religiöse Vielfalt weiter vertieft. Die gegenwärtige religiöse Toleranz unter den Albanern im Laufe der Jahrhunderte wurde während der Ausbreitung des Islam in dem von Albanern bewohnten Gebiet aufrechterhalten, weil die gleichen Faktoren weiterhin wirksam waren: gemeinsames Territorium, Sprache, Traditionen, familiäre Bindungen und spirituelle Beziehungen.

Im neunzehnten Jahrhundert erinnert man sich in den albanischen Gebieten an die Häuser, die am Freitag als Moscheen für islamische Gläubige dienten, während das gleiche Gebäude am Sonntag als Kirche diente und eine Messe abgehalten wurde und in denen Albaner beider Glaubensrichtungen zueinander gingen. Familien, in denen ein Bruder Christ und der andere Muslim war, waren unter Albanern nicht wenige. Bekannt ist auch die Patenschaft oder Bruderschaft, die normalerweise zwischen christlichen oder muslimischen Familien bevorzugt wurde oder wenn eine Behandlung für verschiedene Krankheiten gesucht wurde, Albaner gingen unabhängig von ihrem religiösen Glauben in die Kirche und Moschee. Das gleiche galt für Mischehen zwischen Christen und Muslimen.

Respekt voreinander, vor religiösen Kulten bleibt ebenso bestehen wie das gemeinsame Feiern von Feiertagen zwischen Muslimen und Christen ist unter Albanern üblich, zum Beispiel Sommertag, Nacht des „Buzm“ (das heidnische Fest der Auferstehung des Sonnengottes, ein Fest, das mit der Wintersonnenwende oder der Wintermitte am 21. Dezember zusammenfällt) Ehrerbietung der Jahreszeiten, St. Georg usw. auch viele Wallfahrtsorte bleiben allen Glaubensrichtungen gemeinsam.

Der heilige Johannes Paul II. sagte bei seinem Besuch in Albanien 1993:

„Das albanische Volk ist als Beispiel zu nehmen, wo die Religionsgemeinschaften gegenseitigen Respekt und eine humane Zusammenarbeit haben und wo Albanien Heimat der Ökumene und des interreligiösen Dialogs sein kann.”

Heutzutage können kleine Länder in der Welt nicht mit Wirtschaft und materiellem Reichtum beitragen, sondern mit ihren Werten und ihrer Identität als Albaner zu gegenseitigem Respekt, religiöser Harmonie zwischen Kulturen und Werten.

Folglich wird religiöse Koexistenz unter Albanern nicht wegen eines besonderen Interesses betrieben, sondern wegen der Tatsache, dass Albaner nicht religiös fanatisch sind.

Nichts beschreibt Albaner besser als das bekannte Sprichwort von Pashko Vasa: „Schaut nicht auf die Kirchen und die Moscheen, denn die Religion der Albaner ist das Albanismus“.

Persönlichkeitsentwicklung als Freiheitskampf zwischen Posthumanismus, Überwachungskapitalismus und autoritären Systemen

„So wie die Industriezivilisation auf Kosten der Natur florierte und uns heute die Erde zu kosten droht, wird eine vom Überwachungskapitalismus und seiner instrumentären Macht geprägte Informationszivilisation auf Kosten der menschlichen Natur florieren, womit sie uns unser Menschsein zu kosten droht.“
Prof. Dr. Shoshana Zuboff, amerikanische Ökonomin 

Früher sprach man fast schon ehrfürchtig vom „schwarzen Gold“ – gemeint war damit das Erdöl als Triebfeder für einen fundamentalen Strukturwandel in den Industrieländern. Dieser Strukturwandel war schnell, radikal und hat unser Leben dramatisch verändert. Alles begann letztlich 1859. In diesem Jahr wurde in Titusville, Pennsylvania, eine ergiebige Ölquelle gefunden und man erlebte dort den ersten Ölboom der Geschichte. Nicht umsonst wird die Stadt als Geburtsort des Erdölzeitalters angesehen. Das Öl kam genau zur rechten Zeit. Der Amerikanische Bürgerkrieg ging 1865 zu Ende und nun nahm die Industrialisierung richtig an Fahrt auf. Der Boom wirkte sich auf die ganze westliche Welt aus, welche die Folgen der Französischen Revolution langsam überwunden hatte und die neue Weltordnung des industriellen Zeitalters annahm. 

Mit dem Rückenwind der Einwanderungswellen aus Europa und der Erschließung des Westens entstand ein riesiger Markt. Dann trat auch noch John D. Rockefeller auf den Plan. Seine Familie stammte ursprünglich aus Rockenfeld, einer Wüstung im Neuwieder Stadtteil Feldkirchen in Rheinland-Pfalz; sie wanderte nach Amerika aus und ließ sich in Germantown, Pennsylvania nieder. John D. Rockefeller stieg in den Ölhandel ein und wurde mit seiner Standard Oil Company, dem ersten multinationalen Konzern, zum ersten Milliardär der Weltgeschichte und galt als der reichste Mensch der Neuzeit. Heute heißen die reichsten Menschen der Welt Jeff Bezos, Bill Gates, Mark Zuckerberg und Konsorten; sie handeln nicht mehr mit Öl, sondern letztlich mit Daten, nämlich mit unseren intimsten persönlichen Daten. Kein Wunder, wenn man von diesen Daten heute als dem neuen „schwarzen Gold“ spricht. Rockefellers Standard Oil Company war einst so mächtig, dass es zur ersten Anti-Monopol-Gesetzgebung der USA kam und Standard Oil zerschlagen wurde. Geschichte wiederholt sich. Zumindest wird die Kritik an beispielsweise Jeff Bezos´ Amazon oder an Mark Zuckerbergs Facebook immer lauter. Nicht umsonst fordert Tesla-Chef Elon Musk die Zerschlagung des weltgrößten Onlinehändlers Amazon. Unter seinem Twitter-Account schreibt Musk: „Es ist an der Zeit, Amazon aufzuspalten. Monopole sind unrecht!“. Einzelne Tech-Konzerne sind inzwischen größer als ganze Volkswirtschaften. Beispielsweise bringen die Börsenwerte von Alphabet, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft zusammen mehr auf die Waage als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Deutschland im Vergleich, also mehr als hierzulande in einem Jahr an Gütern und Dienstleistungen produziert wird. 

Es geht aber nicht um die schiere Macht von Wirtschaftsmagnaten. Ob ein Jeff Bezos nun ein Buch aus seinem Amazon-Sortiment verbannt, weil es ihm persönlich nicht gefällt oder ob er mit seiner „Washington Post“, die er sich 2013 für 250 Millionen US-Dollar einfach mal so gekauft hat, zur vermeintlich gewichtigen Stimme in gesellschaftlichen und politischen Debatten wird, ist nicht die eigentliche Gefahr. 

Es geht vielmehr um den Kern des abendländischen Erbes, um das humanistische Menschenbild, um unser Recht auf Freiheit, dass wir unser Leben und alle Entscheidungen, die dieses Leben beeinflussen, selbst bestimmen können. Die eigentliche Gefahr ist, dass wir diese Errungenschaft verlieren. Wir finden uns momentan mit der digitalen Revolution konfrontiert, über deren Beginn, Verlauf und Ende wir uns noch nicht einmal einig sind. Unsere innere Freiheit wird mehr denn je in unserer – vor allem digitalisierten – Welt benötigt. Es gibt keinen Bereich des Lebens mehr, der nicht mit dem Internet verbunden ist. Es wird alles archiviert und nichts vergessen. Dadurch ist aber auch vielleicht nichts mehr wirklich von Wert – zumindest könnte man das zynisch anmerken. Die Digitalisierung der Persönlichkeit als Konsumware ist längst Realität geworden. Wichtig ist, sich dabei nicht selbst zu konsumieren, indem man sich auf der Suche nach sich selbst buchstäblich aus den Augen verliert. Was bleibt am Ende von der Würde des Menschen übrig zwischen Digitalisierung und Posthumanismus?

Jeder Mensch ist einzigartig, mit Rechten, Pflichten und Privilegien versehen, unabhängig von Geschlecht, Religion oder Herkunft. Das ist auch die Basis unseres Selbstverständnisses und letztlich dessen, was insbesondere die Kultur und Identität Europas ausmacht und im europäischen kulturellen Gedächtnis fest verankert ist. 

Der zentrale Schlüsseltext für das Humanismus-Verständnis stammt von dem Renaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola. Es war eine Rede unter der Überschrift „De hominis dignitate“ („Über die Würde des Menschen“), die er 1486 verfasste und in der er die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Welt stellte und die Willensfreiheit als charakteristisches Merkmal des Menschen hervorhob. Jede Generation muss sich damit auseinandersetzen und unter ihren Vorzeichen damit umgehen.

Unbegrenzter Fortschritt und freie Menschen

Wo sind wir heute? Das neue Weltraumzeitalter hat bereits begonnen, Hyperschallflugzeuge, die private Raumfahrt, Weltraumtourismus, der Griff nach einer dauerhaften Siedlung auf dem Mond und die bevorstehende Landung auf dem Mars sind keine Science Fiction, sondern echte Projekte mit vielen Tausend Beschäftigten. Doch haben wir darüber hinaus eine Welt entdeckt und geschaffen, die wir trotz allen Expertenwissens auf diesem Gebiet kaum noch überblicken können. Die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die durch eine ungezügelte globale Informationstechnologie bis hin zu Künstlicher Intelligenz herbeigeführt werden, sprechen für eine Neuordnung unseres Denkens. Dabei braucht die Menschheit zeitnah Lösungen für Fragen, die sie sich selbst stellt. Der Fortschritt hat einen Stand erreicht, an dem wir Erfindungen präsentieren, die wir nicht mehr verstehen und die in ihrer Leistung unsere Vorstellungskraft überflügeln. Wir sind abhängig von Technologie, aber vertrauen der Technik auch blind.

Ein neuer Glaube an Götter, die wir selbst erschaffen, ist am Entstehen. Menschen fühlen sich immer ein bisschen einsam – so hat auch schon der Höhlenmensch empfunden und sich göttliche Naturwesen zur Hilfe geholt. An die Stelle eines monotheistischen Gottes könnte nun ein neues »übermenschliches Wesen« treten. Damit ist nun nicht der Glaube (eher Hoffnungswunsch, immerhin glaubt mehr als die Hälfte der Menschheit an intelligente Wesen irgendwo da draußen) an Außerirdische gemeint, sondern an die Allmacht des technischen Fortschritts. Der Mensch verkommt dabei zum naiven, einfältigen Wesen, das sich der Macht von Algorithmen unterwirft. Die daraus entstehenden »göttlichen Wesen« werden es schon richten und vom Klimawandel bis hin zur Heilung von Krebs alle Probleme lösen, die Unsterblichkeit wird es dank dieser neuen Superwesen dann auch irgendwann einmal geben, zumindest in unserer naiven Vorstellung von Fortschritt. Der Mensch ist diesem Verständnis zu Folge nur ein Zwischenritt in der Evolution, um am Ende eine künstliche Welt zu ermöglichen. Das ist Posthumanismus in Reinform und beschreibt doch eher ein Entwicklungszeitalter nach der Menschheit, wenn Künstliche Intelligenzen übernommen haben und uns Menschen wie Kinder behüten und einschränken werden.

Ein System totaler Überwachung schränkt Freiheit massiv ein und kontrolliert sie. Innovation aber ist die Triebfeder jeder gesellschaftlichen Bewegung. Ein Staat ohne Innovation ist zum Stillstand verdammt – das Fahrrad der berühmten Revolution droht eines Tages umzufallen, zumal niemand mehr die Kraft haben wird, in die Pedale zu treten.Natürlich wird uns die Künstliche Intelligenz Türen öffnen, die wir jetzt noch gar nicht sehen können. Die Besiedelung des Mondes, eine Landung auf dem Mars oder aber der verantwortungsvolle Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten sind ohne ihren Einsatz nicht vorstellbar. Die Menschheit wird ihr eigenes Potenzial vervielfachen. Der Mensch muss dabei aber stets selbstbestimmt und frei bleiben. Er wird entscheiden müssen, wie er seinen Willen nach Fortschritt ausrichtet: Dient der so ausgerichtete Fortschritt dem Menschen und seiner Umwelt oder entwickelt sich aus dem Fortschritt eine zerstörerische Kraft? Der Mensch bestimmt den Fortschritt selbst. Er muss stets in der Lage sein, die Kontrolle zu behalten.

Der moderne Mensch wird heimatlos

Die Welt hat sich noch nie so schnell verändert wie in den letzten zwei Jahrhunderten und das Tempo nimmt noch eher an Fahrt auf.

Betrachten wir nur die letzten zwei bis drei Jahrzehnte, was Internet und Mobilfunk mit uns angestellt haben – in weniger als einer Generation. Fest steht: Arbeit wird zunehmend automatisiert, Geld virtualisiert und ganz allgemein steht uns eine Künstliche Intelligenz Revolution bevor. Alles Ständische und Stehende scheint regelrecht zu verdampfen. Irgendwie hat man den Eindruck, dass wir die Fliehkräfte austesten wollen – mit ungewissem Ausgang.

Was hält uns und unser gesellschaftliches Miteinander denn überhaupt zusammen? Wenden wir uns an dieser Stelle einmal nicht an den Klassiker der Soziologie sowie der gesamten historischen Kultur- und Sozialwissenschaften, also an Max Weber, sondern an seinen jüngeren Bruder, an den deutschen Nationalökonom und Soziologen Alfred Weber (* 1868 in Erfurt; † 1958 in Heidelberg). In Heidelberg promovierte er unter anderen den Sozialpsychologen Erich Fromm (allgemein bekannt für sein gesellschaftliches Werk „Haben oder Sein“ aus dem Jahre 1976). Erwähnenswert ist auch: Bei der Promotion von Franz Kafka leitete Alfred Weber die mündliche Prüfung. 

Nach Alfred Weber zerfällt das menschliche „Daseinsgesamt“ in drei verschiedene Sektoren. Der „Zivilisations-“ und der „Gesellschaftssphäre“ steht die weitgehend autonome „Kultursphäre“ gegenüber. Während die beiden ersten Technik und Wissenschaft, Staatsaufbau und Wirtschaftsorganisation umfassen, umfasst die dritte Kunst, Philosophie, Religion und Mythen. Spannungen könnten im Verlauf der Geschichte dadurch entstehen, dass sich die genannten Teilbereiche nicht gleichmäßig entwickeln. Die zunehmende Auflösung überkommener Bindungen zwischen der Kultur- und den anderen Sphären mache den modernen Menschen tendenziell heimatlos. Kommt uns das bekannt vor? Willkommen in unserer alltäglichen Gegenwart. Übrigens: Alfred Webers Wirkung beruhte nicht nur auf seinen wissenschaftlichen Werken, sondern mindestens ebenso sehr auf seinem persönlichen Eintreten für wissenschaftliche Offenheit, Freiheit und Menschenwürde. 

Die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die durch eine ungezügelte globale Informationstechnologie bis hin zu künstlicher Intelligenz herbeigeführt werden, sprechen für eine Neuordnung unseres Denkens. Denn es stellt sich die berechtigte Frage, welchen Nutzen uns die mittlerweile völlig unüberschaubare Informationsflut bringt, wenn damit zwar unbegrenztes Wissen, nicht aber die geistigen Grundlagen zum Erkenntnisgewinn vermittelt werden. Vielleicht würde uns eine zweite Aufklärung helfen, die sich unter anderem auf das kritische Potential der Denker des 18. Jahrhunderts beruft. Auf dieser Grundlage könnte ein zeitgemäßes pädagogisches Modell entwickelt werden, das den Erfordernissen unseres Zeitalters gerecht wird und die Grundlage für eine sichere und bessere Zukunft bietet.

Es ist dem permanenten Wandel, der ungeheuren Entwicklung und der daraus resultierenden allgemeinen Verunsicherung geschuldet, dass wir uns auf Althergebrachtes zurückziehen und uns nach Zeiten zurücksehnen, in denen noch alles verständlich, sicher und eindeutig war. Die Gestaltung unserer Zukunft erfordert aber das demokratische Engagement von jedem und schließt die Pflicht ein, sich zu informieren und mit anderen auszutauschen.

Quelle: u.a. Wikipedia