Die Welt hat sich noch nie so schnell verändert wie in den letzten zwei Jahrhunderten und das Tempo nimmt noch eher an Fahrt auf.
Betrachten wir nur die letzten zwei bis drei Jahrzehnte, was Internet und Mobilfunk mit uns angestellt haben – in weniger als einer Generation. Fest steht: Arbeit wird zunehmend automatisiert, Geld virtualisiert und ganz allgemein steht uns eine Künstliche Intelligenz Revolution bevor. Alles Ständische und Stehende scheint regelrecht zu verdampfen. Irgendwie hat man den Eindruck, dass wir die Fliehkräfte austesten wollen – mit ungewissem Ausgang.
Was hält uns und unser gesellschaftliches Miteinander denn überhaupt zusammen? Wenden wir uns an dieser Stelle einmal nicht an den Klassiker der Soziologie sowie der gesamten historischen Kultur- und Sozialwissenschaften, also an Max Weber, sondern an seinen jüngeren Bruder, an den deutschen Nationalökonom und Soziologen Alfred Weber (* 1868 in Erfurt; † 1958 in Heidelberg). In Heidelberg promovierte er unter anderen den Sozialpsychologen Erich Fromm (allgemein bekannt für sein gesellschaftliches Werk „Haben oder Sein“ aus dem Jahre 1976). Erwähnenswert ist auch: Bei der Promotion von Franz Kafka leitete Alfred Weber die mündliche Prüfung.
Nach Alfred Weber zerfällt das menschliche „Daseinsgesamt“ in drei verschiedene Sektoren. Der „Zivilisations-“ und der „Gesellschaftssphäre“ steht die weitgehend autonome „Kultursphäre“ gegenüber. Während die beiden ersten Technik und Wissenschaft, Staatsaufbau und Wirtschaftsorganisation umfassen, umfasst die dritte Kunst, Philosophie, Religion und Mythen. Spannungen könnten im Verlauf der Geschichte dadurch entstehen, dass sich die genannten Teilbereiche nicht gleichmäßig entwickeln. Die zunehmende Auflösung überkommener Bindungen zwischen der Kultur- und den anderen Sphären mache den modernen Menschen tendenziell heimatlos. Kommt uns das bekannt vor? Willkommen in unserer alltäglichen Gegenwart. Übrigens: Alfred Webers Wirkung beruhte nicht nur auf seinen wissenschaftlichen Werken, sondern mindestens ebenso sehr auf seinem persönlichen Eintreten für wissenschaftliche Offenheit, Freiheit und Menschenwürde.
Die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die durch eine ungezügelte globale Informationstechnologie bis hin zu künstlicher Intelligenz herbeigeführt werden, sprechen für eine Neuordnung unseres Denkens. Denn es stellt sich die berechtigte Frage, welchen Nutzen uns die mittlerweile völlig unüberschaubare Informationsflut bringt, wenn damit zwar unbegrenztes Wissen, nicht aber die geistigen Grundlagen zum Erkenntnisgewinn vermittelt werden. Vielleicht würde uns eine zweite Aufklärung helfen, die sich unter anderem auf das kritische Potential der Denker des 18. Jahrhunderts beruft. Auf dieser Grundlage könnte ein zeitgemäßes pädagogisches Modell entwickelt werden, das den Erfordernissen unseres Zeitalters gerecht wird und die Grundlage für eine sichere und bessere Zukunft bietet.
Es ist dem permanenten Wandel, der ungeheuren Entwicklung und der daraus resultierenden allgemeinen Verunsicherung geschuldet, dass wir uns auf Althergebrachtes zurückziehen und uns nach Zeiten zurücksehnen, in denen noch alles verständlich, sicher und eindeutig war. Die Gestaltung unserer Zukunft erfordert aber das demokratische Engagement von jedem und schließt die Pflicht ein, sich zu informieren und mit anderen auszutauschen.
Noch vor ein paar Tausend Jahren war der Mensch als Jäger und Sammler mit Holzspeeren unterwegs. Heute verändern Künstliche Intelligenz, Biotechnologie und der Digitalkapitalismus das Menschsein in Rekordzeit. Wir sind zum Mond geflogen, wir haben den Code unserer Gene geknackt und wir haben mit dem Internet ein weltumspannendes Informationsnetz geschaffen, das jeden mit jedem und gleichzeitig mit allen zur Verfügung stehenden Informationen verbindet. Die nächsten Jahre werden sicher eine Bewährungsprobe: Wie gehen wir mit all diesen Herausforderungen, die zugleich auch Chancen sind, um? Verlieren wir uns dabei selbst? Wie können wir Freiheit und Individualismus bewahren? Es liegt an uns, dass daraus keine Zerreißprobe wird.
In der Gegenwart geht es nicht mehr primär um die Industrialisierung und den Ersatz des Menschen als Arbeitskraft durch die Maschine, sondern immer mehr um den vermeintlichen Ersatz des Individuums, des Denkens selbst durch Künstliche Intelligenz. Der Mensch wird natürlich nicht von Computern oder Algorithmen unterworfen, sondern er unterwirft sich ihnen freiwillig. Wir vertrauen immer mehr auf eine Technik, die wir als Einzelne immer weniger verstehen.
Irgendwie hat man das Gefühl dabei, dass sich der Mensch seiner Selbst schämt angesichts der Technik, die er für maßlos überlegen hält. Das kann im äußersten Fall sogar so weit gehen, dass dies den Wunsch begründet, selbst so perfekt wie eine Maschine zu sein. Ein neuer Glaube an Götter, die wir selbst erschaffen, scheint zu entstehen.
Der Mensch mit seiner Willensfreiheit ist Mittelpunkt des Seins und nicht eine ominöse Vorstellung von Technik.
Von der Industriezivilisation mit Erdöl als Triebfeder – mit dem Auffinden der ersten ergiebigen Ölquelle im Jahre 1859 – bis hin zur Informationszivilisation mit der ersten funktionstüchtigen programmgesteuerten binären Rechenmaschine 1941 und dem Start des Internets als Arpanet 1969 war es nur ein kurzer Zeitsprung. Das »Schwarze Gold« hatte eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte ausgelöst – alles, womit wir heute leben und arbeiten, hat irgendwie etwas mit Erdöl zu tun. Das Öl hat eine neue Weltordnung geschaffen, die bis heute anhält. Die exzessive Nutzung von Erdöl wird als einer der Hauptgründe für den Klimawandel angesehen. Die Menschheit hat es geschafft, im Äquivalent gleich mehrere »Vulkane« laufen zu lassen – in Dauerschleife. Es ist scheinbar typisch für uns Menschen, dass wir Maß und Balance nur schwierig einhalten können. Die Massenproduktion im Industriekapitalismus auf Kosten der Natur gipfelt nun in der Ausbeutung persönlicher Daten, dem regelrechten Ausschlachten privater Daten und den daraus erwachsenden Bedrohungen für die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Dies hat das Potenzial, die innere Natur des Menschen zu zerstören.
Unser persönlicher Datensatz, also das neue »schwarze Gold«, welches Google, Facebook und Co. gar so emsig an allen Ecken und Enden aufsaugen, wird zur existenziellen Bedrohung unserer individuellen Einheit, unserer personalen Integrität und damit zur Gefahr für unser Ich, für den Kern unseres Menschseins. Wir haben mittlerweile einen zweiten Schatten, er ist digital. Er ist so messerscharf in der Darstellung unserer Persönlichkeit durch unser Nutzerverhalten, dass nicht selten inzwischen von einer digitalen Identität gesprochen wird. Die aktuelle industriell-digitale Revolution hat uns dabei selbst als Produkte entdeckt. Unsere digitale Identität ist als Massenprodukt geschaffen worden, von Google, Facebook, Amazon und Konsorten. Wir sind die Kunden; und die Produkte sind – wir selbst. Der Kapitalismus hat sich verändert. Zunächst ging es um Profite aus dem Handel mit Produkten, dann aus Dienstleistungen, schließlich aus Spekulationen und jetzt geht es um Profite aus der Überwachung bzw. Analyse unserer persönlichen Daten. Heutzutage haben wir dabei abstrakte Gefahren. Im sogenannten Überwachungs- bzw. Datenkapitalismus werden menschliche Erfahrungen zu Marktgütern gemacht. Das hört sich erst einmal harmlos an – das Gegenteil aber ist der Fall. Der Datenrohstoff daraus führt nämlich in gewisser Weise zur Kontrolle unserer Zukunft – Verhaltensdaten der Nutzer werden auf vorhersagekräftige Muster analysiert.
Die gigantischen Kräfte der Künstlichen Intelligenz, des Datenkapitalismus und des Digitalismus müssen gezähmt werden. Sie müssen auf eine Art und Weise gezähmt werden, dass sie die menschliche Freiheit unterstützen und fördern. Es geht also um den Grundsatz, vom Individuum her auf das Kollektiv zu denken, und nicht umgekehrt. Insbesondere Individualrechte, Partikularrechte und – nicht zu vergessen – die Privatheit sind die Wiege der Demokratie, der Freiheit und der Zivilisation. Eine schrittweise Auflösung der Individualrechte, indem wir die Kontrolle über uns abgeben, weil es bequem ist, birgt die Gefahr des Verlusts von dem, was uns als Zivilisation ausmacht: freie und selbstbestimmte Menschen in kooperativer Verantwortung. Niemand konnte ahnen, was die Digitalisierung zur Folge haben würde, dass wir heute, knapp 70 Jahre später, mit unseren Smartphones und dem Internet geradezu verwachsen sind.
Heutzutage ist es in vielen Regionen der Welt einfacher, an ein Smartphone zu kommen als an sauberes Trinkwasser.
Die unglaubliche Erhöhung der Rechen- und Leistungskapazität hat die Digitalisierung in jeden Aspekt unseres Lebens einschleichen lassen. Es ist ein Merkmal dessen, was der digitale Fortschritt bedeutet: Einerseits werden für das Individuum unglaubliche Kräfte freigesetzt, die Leben und Arbeiten vollkommen verändern; gleichzeitig ist unsere Abhängigkeit von der Digitalisierung inzwischen so absolut, dass wir nur noch die wenigsten Tätigkeiten im Leben ohne diese Technik ausüben wollen oder können. Natürlich wird uns die Künstliche Intelligenz Türen öffnen, die wir jetzt noch gar nicht sehen können. Die Menschheit wird ihr eigenes Potenzial vervielfachen. Der Mensch muss dabei aber stets selbstbestimmt und frei bleiben. Technologie muss als Gehilfin des Menschseins verstanden werden.
Im »Informationszeitalter« laufen wir zudem Gefahr, an Informationen so gefesselt zu werden – »wir informieren uns zu Tode« –, dass sie, statt uns zu bereichern, uns Lebenszeit wegnehmen, wenn wir meinen, alles wissen zu müssen, was uns dargeboten wird. Im digitalen Informationszeitalter werden wir regelrecht überflutet mit widersprüchlichen Nachrichten, die uns oftmals den Mut rauben, eine eigene Meinung zu bilden und diese dann auch offen zu vertreten. Leichter ist es natürlich, eine andere Meinung zu »liken« oder eben einfach nur stumm und »erschlagen« dazusitzen. Hinzu kommt noch das Dauerfeuer aus banalem Unsinn – online jede einzelne Sekunde. Alle wollen unsere Aufmerksamkeit wie auf einem billigen Jahrmarkt erheischen und das in einer Taktung, die uns krank zu machen scheint. Insbesondere Fake News und ihre inflationäre Verbreitung gefährden zunehmend auch unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität unserer Demokratie. Es ist dabei sicherlich auch nicht hilfreich, dass viele Menschen heutzutage allein vor ihren technischen Geräten wie Smartphone oder Laptop sitzen und in den sozialen Medien eine vermeintlich optimierte Version ihrer Selbst kreieren – und sich dabei abgekapselt in digitalen Echokammern und Filterblasen „gemütlich“ wie zu Hause fühlen – in einer zweifelhaften Ersatzheimat. Die Lösung für die Informationsflut wird erst recht die Digitalisierung sein, indem mit Künstlicher Intelligenz und Filtern noch stärker gearbeitet werden muss als bisher.
Wer aber die Algorithmen und die Filter beherrscht, beherrscht letztendlich das Geschehen.
Unsere innere Freiheit wird mehr denn je benötigt. Es gibt keinen Bereich des Lebens mehr, der nicht mit dem Internet verbunden ist. Es wird alles archiviert und nichts vergessen. Dadurch ist aber auch vielleicht nichts mehr wirklich von Wert. Die Digitalisierung der Persönlichkeit als Konsumware ist längst Realität geworden. Wichtig ist, sich dabei nicht selbst zu konsumieren, indem man sich auf der Suche nach sich selbst buchstäblich aus den Augen verliert.
Um dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen, ist es bei Weitem nicht ausreichend, die Welt ständig weiter ohne »Geistiges Band« in ihre Einzelteile – in ihre Datensätze – zerlegen zu können. Es gilt, auch unser Denken, Fühlen und Handeln wieder miteinander zu verbinden und in Einklang miteinander zu bringen.
Es ist eine der merkwürdigsten Denkweisen von uns Menschen, menschliche Intelligenz als Maßstab auf andere Konstrukte und Wesen anzuwenden, die gar nicht menschlich sind.
»Alexa[1] , erschaffe mir einen Dämon, den ich zu Gott und der Welt befragen kann.« So einfach hatte es der universalgebildete Dr. Faust in dem Werk von Goethe dann doch nicht. Faust sitzt in seinem Arbeitszimmer und will die Welt als Ganzes ergründen. Dabei beschwört er mit dunkler Magie einen Erdgeist, der schließlich mehr wissen müsste als Faust. Er will ihn gefangen halten und in die Mangel nehmen. Doch dieser hat die Rechnung ohne den Geist und das Wesen der Natur gemacht: Der Erdgeist macht sich über Faust lustig. »Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir« und lässt den Gelehrten wieder allein. Was war geschehen? Faust wollte etwas von einem Wesen erfahren, das er zwar beruft, aber nicht versteht. Die Natur hatte ihm ein Schnippchen geschlagen und ihm klar gemacht: Den Geist der Natur konnte er nicht mit der Intelligenz des Menschen vergleichen oder gar einfangen. Eigentlich wollte Faust den Prototypen einer künstlichen, einer »anderen« Intelligenz herbeibeschwören. Dumm nur: Er hatte keine Ahnung, um welche Intelligenz es sich dabei eigentlich handelte.
Faust ist frustriert und denkt an Selbstmord: Er verzweifelt – verständlicherweise – an der Juristerei, der Philosophie und der Wissenschaft, die ihn alle nicht weitergebracht haben. Die letzte Grenze will er durchstoßen, um herauszufinden: Was ist der Sinn des Lebens, was macht den Menschen aus? Was ihn rettet, ist das Kirchenläuten: »Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.« Und doch lässt er vom Gift, das er trinken wollte, ab.
Johann Wolfgang von Goethe gilt nach Martin Luther als der wirkungsmächtigste deutschsprachige Autor aller Zeiten. Seine Werke haben Einfluss auf die gesamte westliche Kultur. Goethe: Philosoph, Dichter, Gelehrter, Naturforscher, Jurist, Minister, Freimaurer, Illuminat. Er war eine der schillerndsten Figuren der Aufklärung. Mit seinen Gedanken und Ideen über das Leben und das Menschsein hat er revolutionäre und progressive Gedanken zu Papier gebracht. Am Faust hat er sein Leben lang gearbeitet, und viele andere Werke sind eingeflossen. Die Unterwerfung der Natur unter den menschlichen Willen war stets Thema seiner Arbeiten und kritischen Überlegungen. Und: Er befasste sich mit der Idee, was geschehen würde, wenn der Mensch eine künstliche Intelligenz erschaffen könnte. Und das, obwohl er nicht einmal wissen konnte, was Elektronik eigentlich ist und was man mit einem Computer alles Sinnvolles oder Sinnloses anstellen kann. Seine Idee war die einer künstlichen biologischen Intelligenz. Die Folge aber ist die gleiche: Der Mensch erkennt in einer anderen Intelligenz lediglich sich selbst. Die Gegenseite ist nicht das, was der Mensch erwartet hat.
»Deep Thought«, das ist der Supercomputer, der im Roman Per Anhalter durch die Galaxis die Erde selbst entwirft. Jahrtausende hatte er an der Antwort auf die Frage nach dem Leben und allem anderen ziemlich herumgekaut. Mit der Antwort »42« gab man sich nicht so recht zufrieden, sodass ein leistungsstärkerer Computer her musste: die Erde, ein Computer, der diese ungenau gestellte Frage an sich verstehen konnte. Ein Thema, das in unzähligen Romanen und Geschichten auftaucht. Künstlich geschaffene Intelligenz, computerbasiert, die unsere Fähigkeiten überflügelt und uns das Leben leichter oder zur Hölle macht, je nachdem, wie gut programmiert wurde.
Es ist eine der merkwürdigsten Denkweisen von uns Menschen, menschliche Intelligenz als Maßstab auf andere Konstrukte und Wesen anzuwenden, die gar nicht menschlich sind.
Wer nicht weiß, woher er kommt, kann nicht wissen, wohin er geht. Wir finden den Ursprung unseres Weges in Europa in unserer abendländischen Kultur. Es ist eine griechisch-römische und jüdisch-christliche Kultur, die ihren folgerichtigen Übergang zu Freiheit, Menschenrechten und Demokratie durch die Aufklärung fand. Respekt vor der gleichen Würde jedes Menschen und sozialer Zusammenhalt, im Geist von gegenseitigem Vertrauen und Nächstenliebe, bilden den Kern. Das sind fundamentale und auch universale Werte. Es lohnt sich, diese Werte auch in Zukunft zu leben. Der Humanismus ist dabei keine Selbstverständlichkeit. Er muss gelebt werden, ansonsten kann das einzigartige Menschenbild verschwinden. Der griechische Philosoph Platon sprach von der Idee des Menschen und biblisch lässt sich das mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen ausdrücken. In der Gottebenbildlichkeit liegt die theologische Begründung der Menschenwürde – insbesondere seit dem Renaissance-Humanismus – und ideengeschichtlich stellen die Gottebenbildlichkeit und die daraus ableitbare Menschenwürde eine Basis für die Entstehung der Menschenrechte dar. Damit ist auf einer gewissen Abstraktionsstufe ein Begriff geprägt, der menschliches Handeln und Ordnung miteinander verknüpft und damit Recht, Moral, Staat und Weltbild auf eine gemeinsame Grundlage stellt. Diese Idee als Inbegriff aller Normen, Verpflichtungen und Axiome, die das menschliche Leben in den sozialen und politischen Ordnungen des Zusammenlebens steuern, deckt sich mit dem, was auch humanistisch abendländische Kultur genannt werden könnte. Als einen wesentlichen Entwicklungsschritt und Höhepunkt unserer Kultur beziehungsweise der europäischen Geistesgeschichte und des sich daraus entwickelnden Humanismus erkennen wir immer noch die Zeit der Renaissance und der Aufklärung an. Sie leitete letztlich die Geburt der Revolutionen für mehr Freiheit und Menschenrechte ein. Nicht umsonst steht die Würde des Menschen an erster Stelle im deutschen Grundgesetz.
Es ist und bleibt immer die gleiche Herausforderung: Wie wird Humanismus gelebt? Der zentrale Schlüsseltext für das Humanismus-Verständnis stammt von dem Renaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola. Es war eine Rede unter der Überschrift „De hominis dignitate“ („Über die Würde des Menschen“), die er 1486 verfasste und in der er die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Welt stellte und die Willensfreiheit als charakteristisches Merkmal des Menschen hervorhob. Jede Generation muss sich damit auseinandersetzen und unter ihren Vorzeichen damit umgehen:
»Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.«
Gottvater, der hier spricht, hat dem Menschen nicht den freien Willen überlassen, sondern umgekehrt – er hat dem freien Willen den Menschen überlassen. Was kann diese ungewöhnliche Formulierung bedeuten? Den freien Willen bestimmt nicht einfach so der Mensch, sondern er unterstellt sich diesem. Hört sich paradox an, ist es aber nicht, obwohl schwer mit dem Verstand greifbar. Freier Wille bedeutet also nicht, der Mensch kann tun und lassen, was er will und wie es ihm beliebt oder dass er sich als »Übermensch« über alle und alles erhebt; er könnte es natürlich schon, dann entwickelt er sich aber nach »unten«. Die Idee ist deshalb wahrscheinlich eine andere. Es könnte viel mehr bedeuten, sich seinem freien Willen zu unterstellen, diesen immer wieder durch Arbeit an sich selbst, durch (Selbst)reflexion, zu erarbeiten und zu prüfen. Diese Entscheidung verwirklicht sich in seinem Tun und Wirken, wie es bei dem sokratischen Dialog aufgezeigt wird. Dabei geht es um einen tiefen Blick in sein Innerstes. Meinungen und Glaubensinhalte sollen hinterfragt und der Mensch soll sich seiner Unwissenheit bewusst werden. Dabei sollen wir also unser Wissen weiterentwickeln und uns unserem eigentlichen Wesen annähern. »Dir selbst deine Natur bestimmen«, wie es in Picos Rede heißt, ist damit gemeint. Dieser Weg bringt uns schließlich dazu, eigenständig zu denken und unsere Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Nach Aristoteles entwickelt sich der höchste Sinn des Lebens aus dem tugendhaften Handeln im Alltag.
Die Fragen nach dem richtigen Leben und dem Glücklichsein stellen sich seit der Antike, eigentlich seit dem Beginn der menschlichen Zivilisation. Der Quantensprung des antiken Griechenlands, der verblüffender Weise auf nur wenige kluge Köpfe zurückzuführen ist, bildete das Fundament dessen, was uns heute ausmacht. Ohne dieses würde es heute keinen Humanismus, keine Menschenrechte und keine Demokratie geben.
Das Menschsein wird immer in Bewegung sein. Hier wird unser Blick für das geöffnet, was uns ausmacht und was unser innerstes und ureigenstes Bestreben ist. Das Bestreben, stets an sich zu arbeiten und morgen ein besserer Mensch zu sein als gestern, ist nichts anderes als das ewige Streben nach einem unerreichbaren Ideal. So wenig wie ein Mensch vollkommenes Glück erringen kann, so unmöglich ist es ihm, in allen Belangen perfekt zu sein. Beiderlei Streben sind jedoch der Weg, um glücklich zu leben.
Die Tugenden sind Werkzeuge, um diesen Weg beschreiten zu können. Mit ihnen schnüren wir unsere Wanderstiefel zu, ziehen den Reißverschluss der Jacke bis an die Nasenspitze hoch und treten zuversichtlich jedem Sturm am Horizont entgegen, der da kommen mag.
Ist uns eigentlich schon aufgefallen, dass wir in den letzten 100 bis 200 Jahren lauter Erfindungen gemacht haben, die Zeit sparen (sollen), wie Telefon, Telegraph, Telex, Telefax, Eisenbahn, Automobil, Computer, Internet, Künstliche Intelligenz, etc., dass wir aber so gut wie alle sehr viel weniger Zeit haben als die Menschen, die vor diesen Erfindungen lebten?
Allein der Digitalkapitalismus überfordert uns bereits heute: zwischen Massen an Informationen, Daten und virtuellen Welten geht der Blick für das Wesentliche verloren. Wir verlieren uns selbst zwischen Konsum und gesellschaftlichem Wandel.
In diesem Spannungsfeld stellen sich die entscheidenden Fragen: Was macht mich als Menschen einzigartig? Was hat uns zu dem gemacht, was wir sind? Was sind wir morgen? Woher komme ich, wohin gehe ich? Und: Wie bleibe ich frei und selbstbestimmt? Wir müssen uns als Einzelne und als Gesellschaft neu verorten: Im Mittelpunkt allen Handelns steht das Individuum, mit allen Rechten und Pflichten. Gleichberechtigt und bereit, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.
Erschwerend kommt aktuell hinzu, dass sich unsere Welt noch nie so schnell verändert hat wie in den letzten zwei Jahrhunderten – und das Tempo nimmt noch an Fahrt auf. Betrachten wir nur die letzten zwei bis drei Jahrzehnte, was Internet und Mobilfunk mit uns angestellt haben – in weniger als einer Generation. Fest steht: Arbeit wird zunehmend automatisiert, Geld virtualisiert und ganz allgemein steht uns eine Künstliche-Intelligenz-Revolution bevor. Alles Bewährte, Bekannte und Gewohnte scheint hier regelrecht zu verdampfen. Irgendwie hat man den Eindruck, dass wir die Fliehkräfte austesten wollen – mit ungewissem Ausgang. Strukturen wie beispielsweise Familie und Kirche haben massiv als Orientierung und als Rückhalt an Bedeutung verloren und neue sind nicht wirklich in Sicht. Die Frage nach Identität und was menschliches Dasein wirklich bedeuten kann, rückt verständlicherweise mehr denn je in den Mittelpunkt.
Im sogenannten „Informationszeitalter“ werden wir an Informationen so gefesselt, dass sie uns Zeit wegnehmen, wenn wir meinen, alles wissen zu müssen, was uns dargeboten wird.
Es braucht einige Zeit, um sich von solchen Gewohnheiten zu lösen, die zu Zwängen geworden sind, und ferner zu erkennen, dass Informationen nicht dasselbe sind wie heilsames Wissen oder gar Weisheit.
Heute suchen viele Menschen wieder dieses verlorene Verweilen, das zugunsten einer angeblichen „schöpferischen Unruhe“ aufgegeben worden ist. Diese endet, wenn sie nicht weiß, was sie tun soll, im Aktionismus. Da das Getane nicht sinnvoll ist und nur dafür sorgt, in Bewegung zu bleiben, ist es lediglich ein Rennen, ein Davonrennen, ein Rasen. Es sind viel weniger die Sachzwänge als wir selbst, die uns hetzen, zum Fortschritt zwingen. Fortschritt ist ein verkanntes, aber verräterisches Wort, denn hier wird nicht auf ein Ziel zugeschritten, sondern von etwas – wohl von der Mitte, die der Meditierende wieder sucht – „fort“ geschritten. Die Ambivalenz dieses „Fortschritts“ ist uns trotz aller hilfreichen Erfindungen langsam klar geworden.
Aber die Ursachen, besser der Verlust jener Mitte, jenes Grundes, von dem wir uns dabei entfernen, sind noch lange nicht erkannt – und auch in der Tat schwer zu erkennen, wenn man sie zu Wort bringen will. Sie liegen auch tief im technisch-naturwissenschaftlichen Denken verborgen, das uns so viel Erfolge auf einer bestimmten Ebene gebracht hat, aber die Welt in einer Weise vergegenständlicht, entseelt und entmenschlicht, dass sie leer und öde wird, nicht nur gottlos („Gott ist tot“), sondern „tote Materie“, eine Summe von „Stoffen und Kräften“, die wir durch Erkenntnis der „Ursachenketten“ nach Belieben berechnen und manipulieren können, so dass sie uns außer Zahlen und Fakten „nichts mehr zu sagen“ haben und die Dichter, die sie einst besangen, vermeintlich im Unwirklichen herumphantasieren, welt- und realitätsfremd sind.
Johann Wolfgang von Goethe scheint unser rasendes Informationszeitalter vorausgeahnt zu haben, als er in seinen „Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten“ dichtete:
„Mich ängstigt das Verfängliche
Im widrigen Geschwätz,
Wo nichts verharret, alles flieht,
Wo schon verschwunden, was man sieht;
Und mich umfängt das bängliche,
Das graugestrickte Netz.“
Der Preis für die großartigen Erfolge und all die Macht, die wir heute durch Technik und Naturwissenschaft haben, ist hoch, sehr hoch. Jedenfalls solange nicht deren Wesen erkannt wird und damit deren Grenzen gesehen werden. Nur so lassen sie sich wieder in ein menschlicheres, nicht nur kausales und funktionales Weltverständnis von der „großen Weltmaschine“ einbetten. Es geht nicht darum, Technik und Naturwissenschaft zu leugnen oder abzuschaffen – wir brauchen sie –, aber im Hegel’schen Sinne sollten wir sie „aufheben“, also zugleich überwinden und bewahren.
„So wie die Industriezivilisation auf Kosten der Natur florierte und uns heute die Erde zu kosten droht, wird eine vom Überwachungskapitalismus und seiner instrumentären Macht geprägte Informationszivilisation auf Kosten der menschlichen Natur florieren, womit sie uns unser Menschsein zu kosten droht.“ Prof. Dr. Shoshana Zuboff, amerikanische Ökonomin
Früher sprach man fast schon ehrfürchtig vom „schwarzen Gold“ – gemeint war damit das Erdöl als Triebfeder für einen fundamentalen Strukturwandel in den Industrieländern. Dieser Strukturwandel war schnell, radikal und hat unser Leben dramatisch verändert. Alles begann letztlich 1859. In diesem Jahr wurde in Titusville, Pennsylvania, eine ergiebige Ölquelle gefunden und man erlebte dort den ersten Ölboom der Geschichte. Nicht umsonst wird die Stadt als Geburtsort des Erdölzeitalters angesehen. Das Öl kam genau zur rechten Zeit. Der Amerikanische Bürgerkrieg ging 1865 zu Ende und nun nahm die Industrialisierung richtig an Fahrt auf. Der Boom wirkte sich auf die ganze westliche Welt aus, welche die Folgen der Französischen Revolution langsam überwunden hatte und die neue Weltordnung des industriellen Zeitalters annahm.
Mit dem Rückenwind der Einwanderungswellen aus Europa und der Erschließung des Westens entstand ein riesiger Markt. Dann trat auch noch John D. Rockefeller auf den Plan. Seine Familie stammte ursprünglich aus Rockenfeld, einer Wüstung im Neuwieder Stadtteil Feldkirchen in Rheinland-Pfalz; sie wanderte nach Amerika aus und ließ sich in Germantown, Pennsylvania nieder. John D. Rockefeller stieg in den Ölhandel ein und wurde mit seiner Standard Oil Company, dem ersten multinationalen Konzern, zum ersten Milliardär der Weltgeschichte und galt als der reichste Mensch der Neuzeit. Heute heißen die reichsten Menschen der Welt Jeff Bezos, Bill Gates, Mark Zuckerberg und Konsorten; sie handeln nicht mehr mit Öl, sondern letztlich mit Daten, nämlich mit unseren intimsten persönlichen Daten. Kein Wunder, wenn man von diesen Daten heute als dem neuen „schwarzen Gold“ spricht. Rockefellers Standard Oil Company war einst so mächtig, dass es zur ersten Anti-Monopol-Gesetzgebung der USA kam und Standard Oil zerschlagen wurde. Geschichte wiederholt sich. Zumindest wird die Kritik an beispielsweise Jeff Bezos´ Amazon oder an Mark Zuckerbergs Facebook immer lauter. Nicht umsonst fordert Tesla-Chef Elon Musk die Zerschlagung des weltgrößten Onlinehändlers Amazon. Unter seinem Twitter-Account schreibt Musk: „Es ist an der Zeit, Amazon aufzuspalten. Monopole sind unrecht!“. Einzelne Tech-Konzerne sind inzwischen größer als ganze Volkswirtschaften. Beispielsweise bringen die Börsenwerte von Alphabet, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft zusammen mehr auf die Waage als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Deutschland im Vergleich, also mehr als hierzulande in einem Jahr an Gütern und Dienstleistungen produziert wird.
Es geht aber nicht um die schiere Macht von Wirtschaftsmagnaten. Ob ein Jeff Bezos nun ein Buch aus seinem Amazon-Sortiment verbannt, weil es ihm persönlich nicht gefällt oder ob er mit seiner „Washington Post“, die er sich 2013 für 250 Millionen US-Dollar einfach mal so gekauft hat, zur vermeintlich gewichtigen Stimme in gesellschaftlichen und politischen Debatten wird, ist nicht die eigentliche Gefahr.
Es geht vielmehr um den Kern des abendländischen Erbes, um das humanistische Menschenbild, um unser Recht auf Freiheit, dass wir unser Leben und alle Entscheidungen, die dieses Leben beeinflussen, selbst bestimmen können. Die eigentliche Gefahr ist, dass wir diese Errungenschaft verlieren. Wir finden uns momentan mit der digitalen Revolution konfrontiert, über deren Beginn, Verlauf und Ende wir uns noch nicht einmal einig sind. Unsere innere Freiheit wird mehr denn je in unserer – vor allem digitalisierten – Welt benötigt. Es gibt keinen Bereich des Lebens mehr, der nicht mit dem Internet verbunden ist. Es wird alles archiviert und nichts vergessen. Dadurch ist aber auch vielleicht nichts mehr wirklich von Wert – zumindest könnte man das zynisch anmerken. Die Digitalisierung der Persönlichkeit als Konsumware ist längst Realität geworden. Wichtig ist, sich dabei nicht selbst zu konsumieren, indem man sich auf der Suche nach sich selbst buchstäblich aus den Augen verliert. Was bleibt am Ende von der Würde des Menschen übrig zwischen Digitalisierung und Posthumanismus?
Jeder Mensch ist einzigartig, mit Rechten, Pflichten und Privilegien versehen, unabhängig von Geschlecht, Religion oder Herkunft. Das ist auch die Basis unseres Selbstverständnisses und letztlich dessen, was insbesondere die Kultur und Identität Europas ausmacht und im europäischen kulturellen Gedächtnis fest verankert ist.
Der zentrale Schlüsseltext für das Humanismus-Verständnis stammt von dem Renaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola. Es war eine Rede unter der Überschrift „De hominis dignitate“ („Über die Würde des Menschen“), die er 1486 verfasste und in der er die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Welt stellte und die Willensfreiheit als charakteristisches Merkmal des Menschen hervorhob. Jede Generation muss sich damit auseinandersetzen und unter ihren Vorzeichen damit umgehen.
Wo sind wir heute? Das neue Weltraumzeitalter hat bereits begonnen, Hyperschallflugzeuge, die private Raumfahrt, Weltraumtourismus, der Griff nach einer dauerhaften Siedlung auf dem Mond und die bevorstehende Landung auf dem Mars sind keine Science Fiction, sondern echte Projekte mit vielen Tausend Beschäftigten. Doch haben wir darüber hinaus eine Welt entdeckt und geschaffen, die wir trotz allen Expertenwissens auf diesem Gebiet kaum noch überblicken können. Die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die durch eine ungezügelte globale Informationstechnologie bis hin zu Künstlicher Intelligenz herbeigeführt werden, sprechen für eine Neuordnung unseres Denkens. Dabei braucht die Menschheit zeitnah Lösungen für Fragen, die sie sich selbst stellt. Der Fortschritt hat einen Stand erreicht, an dem wir Erfindungen präsentieren, die wir nicht mehr verstehen und die in ihrer Leistung unsere Vorstellungskraft überflügeln. Wir sind abhängig von Technologie, aber vertrauen der Technik auch blind.
Ein neuer Glaube an Götter, die wir selbst erschaffen, ist am Entstehen. Menschen fühlen sich immer ein bisschen einsam – so hat auch schon der Höhlenmensch empfunden und sich göttliche Naturwesen zur Hilfe geholt. An die Stelle eines monotheistischen Gottes könnte nun ein neues »übermenschliches Wesen« treten. Damit ist nun nicht der Glaube (eher Hoffnungswunsch, immerhin glaubt mehr als die Hälfte der Menschheit an intelligente Wesen irgendwo da draußen) an Außerirdische gemeint, sondern an die Allmacht des technischen Fortschritts. Der Mensch verkommt dabei zum naiven, einfältigen Wesen, das sich der Macht von Algorithmen unterwirft. Die daraus entstehenden »göttlichen Wesen« werden es schon richten und vom Klimawandel bis hin zur Heilung von Krebs alle Probleme lösen, die Unsterblichkeit wird es dank dieser neuen Superwesen dann auch irgendwann einmal geben, zumindest in unserer naiven Vorstellung von Fortschritt. Der Mensch ist diesem Verständnis zu Folge nur ein Zwischenritt in der Evolution, um am Ende eine künstliche Welt zu ermöglichen. Das ist Posthumanismus in Reinform und beschreibt doch eher ein Entwicklungszeitalter nach der Menschheit, wenn Künstliche Intelligenzen übernommen haben und uns Menschen wie Kinder behüten und einschränken werden.
Ein System totaler Überwachung schränkt Freiheit massiv ein und kontrolliert sie. Innovation aber ist die Triebfeder jeder gesellschaftlichen Bewegung. Ein Staat ohne Innovation ist zum Stillstand verdammt – das Fahrrad der berühmten Revolution droht eines Tages umzufallen, zumal niemand mehr die Kraft haben wird, in die Pedale zu treten.Natürlich wird uns die Künstliche Intelligenz Türen öffnen, die wir jetzt noch gar nicht sehen können. Die Besiedelung des Mondes, eine Landung auf dem Mars oder aber der verantwortungsvolle Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten sind ohne ihren Einsatz nicht vorstellbar. Die Menschheit wird ihr eigenes Potenzial vervielfachen. Der Mensch muss dabei aber stets selbstbestimmt und frei bleiben. Er wird entscheiden müssen, wie er seinen Willen nach Fortschritt ausrichtet: Dient der so ausgerichtete Fortschritt dem Menschen und seiner Umwelt oder entwickelt sich aus dem Fortschritt eine zerstörerische Kraft? Der Mensch bestimmt den Fortschritt selbst. Er muss stets in der Lage sein, die Kontrolle zu behalten.
Der Mensch soll sich seiner Begierden entledigen, den Wissenschaften nachgehen, die Moral als sein Gewissen und die Logik als seine Vernunft nutzen, um die Erleuchtung zu erfahren und zu Gott aufzusteigen. Dieser dreistufige Prozess ist mit der Idee des freimaurerischen Erkenntnisweges mehr als nur eng verwandt. Das ist kein Zufall, denn der Humanismus der Renaissance ist eindeutig im freiheitlichen Menschenbild der Freimaurerei übernommen worden.
Der »Phoenix der Geister«, ein bewunderter Gelehrter, ein Schöngeist und ein Menschenfreund: So feierte man bereits zu Lebzeiten Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494). Er war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 23 Jahre alt. Als jüngster Sohn des Grafen della Mirandola war Giovanni ein wahres Wunderkind, das schon mit vierzehn Jahren bestens mit der klassischen Philosophie vertraut war. Das Leben eines Klerikers, wie seine Eltern es ursprünglich für ihren Sohn vorgesehen hatten, war nichts für ihn. Stattdessen stu- dierte er Rechtswissenschaften und Philosophie. Von Bologna nach Florenz übergesiedelt fand er schon rasch im Kreise des Lorenzo il Magnificos Anschluss, welcher der berühmten Familie der Medici entstammte. Als Förderer der Künste war Lorenzo einer der reichsten und mächtigsten Menschen Europas. Der geistige und kulturelle Einfluss der Medici ging weit über die Grenzen Italiens hinaus, beeinflusste alle Denker, Gelehrten, aber auch die Einflussreichen, Reichen und Mächtigen jener Zeit, der Renaissance.
Mit dem Buchdruck wurden die griechischen Schriften und die der Humanisten in der Welt der Gelehrten bekannt. Im 15. und 16. Jahrhundert fand man an vielen Universitäten Humanisten, sodass der Humanismus auch viele spätere Reformatoren prägte. Italien spielte eine bedeutende Rolle bei seiner Verbreitung. Den Gelehrten ging es um das alte Wissen in seiner Reinform. Mit viel Geld und Mühe machten sie verloren geglaubte literarische Werke allgemein zugänglich. Das Kulturelle Gedächtnis Europas erlebte somit einen Boom der Wiedergeburt – die Erkenntnisse über Zusammenhänge und Auswirkungen von Religion, Tradition und Geschichte waren kein Herrschaftswissen mehr, das in seltenen Ausgaben handschriftlich auf Pergament überliefert wurde, sondern ein Kulturgut, das immer mehr Menschen offenbart wurde.
Die Familie der Medici gehörte zu den größten Förderern von Kunst, Literatur und Wissenschaft. Florenz entwickelte sich zum damaligen Zentrum des Humanismus, der Kultur und der Schönen Künste. Giovanni stieg trotz seiner jungen Jahre rasch zu einem gut vernetzten Universalgelehrten auf. Mit nur 24 Jahren hielt er seine Gedanken zur Würde des Menschen schriftlich fest. Er setzte den Schwerpunkt auf die Freiheit des Menschen, der seinen Platz in der Schöpfung selbst findet und besetzt, also selbst Gestalter seines Lebens ist.
Wie auch der geistige Vater der Gotik, Abt Suger von Saint-Denis, hatte Mirandola den Pseudo-Dionysius Areopagita gelesen und daraus seine Schlüsse über den Platz des Menschen im Kosmos und sein Verhältnis zu Gott gezogen. Der Mensch als Abbild Gottes hat demnach eine besondere Würde und Freiheit inne – die Menschenwürde. Gott als der höchste Baumeister hat den Tempel seiner Schöpfung zuletzt mit dem Menschen versehen, ihm jedoch keinen festen Wohnsitz in diesem Tempel zugeteilt, auf dass er sein Leben so gestalten könne, wie er es sich wünsche. Adam als Archetyp steht es demnach frei, sich zum Göttlichen zu erheben oder zum niedrigsten Geschöpf hinab zu entwickeln.
Der Mensch soll sich seiner Begierden entledigen, den Wissenschaften nachgehen, die Moral als sein Gewissen und die Logik als seine Vernunft nutzen, um die Erleuchtung zu erfahren und zu Gott aufzusteigen. Dieser dreistufige Prozess ist mit der Idee des freimaurerischen Erkenntnisweges mehr als nur eng verwandt. Das ist kein Zufall, denn der Humanismus der Renaissance ist eindeutig im freiheitlichen Menschenbild der Freimaurerei übernommen worden.
Der Humanismus hat seine Ursprünge im antiken Griechenland, auch Mirandola war ein begeisterter Leser der antiken Werke. Welcher Staat ist für die Menschen der richtige? Was ist das Gute und was ist das Glück? Wie dienen Gesetze dem Menschen, und wie sieht die ideale Gesellschaft aus? Diese Fragen hatten sich im antiken Griechenland insbesondere durch die Kulturkrise nach dem Peloponnesischen Krieg ergeben. Mit Platon und Isokrates begann ein neues Kapitel im kulturellen Austausch zwischen Ägypten und Griechenland. Die Philosophen stellten diese grundlegenden Sinnfragen und suchten Antworten in der Weisheit des Nils. Als die Ptolemäer die Herrschaft über das alte Pharaonenreich erlangten, war die Verbindung aus dem progressiven Denken der Hellenen und dem mystischen, traditionellen und staatsdienenden Verständnis der Ägypter perfekt. Das Kind dieser Verbindung ist der paneuropäische Hellenismus – die Wiege des Abendlandes und des modernen Humanismus.[1] Es geht dabei um den Gedanken der Kulturerziehung und Menschenbildung im Zusammenspiel mit dem Geist der übrigen Völker des europäischen Kulturkreises.
Wie eng Freiheit und Humanismus zusammenliegen, zeigt sich in Platons Politeia, indem er fragt: »Wohlan denn, lieber Freund, welches ist wohl die Art, wie die Tyrannei entsteht? Denn dass sie sich aus der Demokratie abändert, ist wohl fast offenbar!«[2] Das Schicksal des Einzelnen ist nicht nur bestimmt durch Staat und Herrschaft, sondern vor allem durch die übergeordnete Ansicht dessen, was ein gutes, menschenwürdiges, nützliches und freies Leben sei. Freiheit braucht einen Rahmen, um nicht missbraucht zu werden – die Humanität.
Doch das tiefergehende Streben um Menschlichkeit verblasste über die Jahrhunderte, es war in anderer Form in der Entstehung der christlichen Mystik eingeflossen. Erst im 14. Jahrhundert wurde in Italien den originalen Schriften der antiken Autoren wieder mehr Beachtung geschenkt. Es war der Beginn einer neuen Gelehrsamkeit. Es begann eine umfassende Rückbesinnung auf die Antike, sowohl in der Kunst als auch in der Architektur. Das, was wir heute allgemein unter Humanismus verstehen, kann auch als Synthese aus dem Humanismus der Antike und dem christlichen Menschendbild bezeichnet werden. Die Wiedergeburt der Welt der Antike ist die Suche nach dem eigenen Ursprung. Es geht dabei um den Ursprung der Kultur, aber auch der Religion und des eigenen Ichs.
Bereits begrifflich richtet sich der Humanismus direkt an den Menschen, an seinen Geist, sein Wesen, seine Seele und seinen Verstand. Der einzelne Mensch steht also im Vordergrund. Zu den Prinzipien des Humanismus gehören unverzichtbar Meinungsfreiheit und Toleranz. Dazu gesellen sich auch Güte, Mitgefühl und Freundlichkeit. Der Mensch sollte an sich arbeiten und seine Fähigkeiten voll entfalten. Auf diesen Grundlagen soll das menschliche Zusammenleben beruhen. Der Humanismus ist also der Grundpfeiler der Demokratie. In Deutschland beschäftigte sich Nikolaus von Kues (Cusanus) intensiv mit den Ideen des Humanismus; als erster deutscher Humanist gilt bis heute Johannes Reuchlin aus Pforzheim, Großonkel Philipp Melanchthons. Der schwäbische Gelehrte war vor allem von den italienischen Humanisten inspiriert, die sich um die Medici versammelt hatten. In Deutschland gehörten ferner Ulrich von Hutten und der Wegbegleiter Martin Luthers, Philipp Melanchthon, zu den Befürwortern und Vertretern des Humanismus.
Der Buchdruck wurde über die Jahrhunderte mehr und mehr das analoge Internet: So schnell eben ein Mensch eine Druckmaschine bedienen und ein Pferd reiten kann, wurden Gedanken, Informationen und Nachrichten verbreitet. Für die Entwicklung der Demokratie war der Buchdruck eine grundlegende Bedingung. In den damals noch britischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent hatten sich im 18. Jahrhundert immer mehr Zeitungen und Verlage gegründet, aber auch privat wurde reichlich gedruckt und veröffentlicht. Nun wurden die Ideen des Humanismus, der Aufklärung und die daraus resultierenden politischen Ansprüche des Bürgertums in alle Ecken des Landes verteilt, zugänglich für jeden, der lesen konnte. Es war die logische, ja einzige Folge dessen, was durch den Buchdruck und den Humanismus Jahrhunderte zuvor in die Gesellschaft gesät wurde: freies Denken, für freie Menschen, die gleichwertig leben und handeln wollen. Diese Ideen kamen mit der Demokratie als Trägerin zurück nach Europa und zündeten den Funken für die großen Revolutionen der Moderne, den Kampf um Freiheit und um die Anerkennung der Rechte des Individuums.
Das in der deutschen Klassik durch Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe hin zu Friedrich Schiller und Friedrich Hölderlin geprägte Menschenbild erkennt den mündigen Menschen im Zusammenwirken von Vernunft und Sinnlichkeit. Es entdeckt so- zusagen den freien und selbstbestimmten Menschen. Der Mensch steht im permanenten Widerspruch zu jeder Form von kirchlicher oder staatlicher Bevormundung. Er strebt danach, die Welt menschenwürdiger zu gestalten. So wird der Humanismus immer von der jeweiligen Zeit und Gesellschaft geprägt sein, so auch in den Menschenrechten, wie sie in der französischen Nationalversammlung 1789 gefordert und 1791 in der amerikanischen Verfassung verwirklicht worden sind.
[1] Assmann, Jan: Weisheit und Mysterium. Das Bild der Griechen von Ägypten, Verlag C. H. Beck, München 2000, S. 31 f.
[2] Platon, Sämtliche Werke, Band 2, Rowohlts Enzyklopädie, Hrsg. Burghard König, Reinbek bei Hamburg, 30. Auflage 2004, Politeia 562a, Seite 471