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Bedrohen Digitalisierung und KI das Menschsein?

Noch vor ein paar Tausend Jahren war der Mensch als Jäger und Sammler mit Holzspeeren unterwegs. Heute verändern Künstliche Intelligenz, Biotechnologie und der Digitalkapitalismus das Menschsein in Rekordzeit. Wir sind zum Mond geflogen, wir haben den Code unserer Gene geknackt und wir haben mit dem Internet ein weltumspannendes Informationsnetz geschaffen, das jeden mit jedem und gleichzeitig mit allen zur Verfügung stehenden Informationen verbindet. Die nächsten Jahre werden sicher eine Bewährungsprobe: Wie gehen wir mit all diesen Herausforderungen, die zugleich auch Chancen sind, um? Verlieren wir uns dabei selbst? Wie können wir Freiheit und Individualismus bewahren? Es liegt an uns, dass daraus keine Zerreißprobe wird.

In der Gegenwart geht es nicht mehr primär um die Industrialisierung und den Ersatz des Menschen als Arbeitskraft durch die Maschine, sondern immer mehr um den vermeintlichen Ersatz des Individuums, des Denkens selbst durch Künstliche Intelligenz. Der Mensch wird natürlich nicht von Computern oder Algorithmen unterworfen, sondern er unterwirft sich ihnen freiwillig. Wir vertrauen immer mehr auf eine Technik, die wir als Einzelne immer weniger verstehen.

Irgendwie hat man das Gefühl dabei, dass sich der Mensch seiner Selbst schämt angesichts der Technik, die er für maßlos überlegen hält. Das kann im äußersten Fall sogar so weit gehen, dass dies den Wunsch begründet, selbst so perfekt wie eine Maschine zu sein. Ein neuer Glaube an Götter, die wir selbst erschaffen, scheint zu entstehen. 

Der Mensch mit seiner Willensfreiheit ist Mittelpunkt des Seins und nicht eine ominöse Vorstellung von Technik.

Von der Industriezivilisation mit Erdöl als Triebfeder – mit dem Auffinden der ersten ergiebigen Ölquelle im Jahre 1859 – bis hin zur Informationszivilisation mit der ersten funktionstüchtigen programmgesteuerten binären Rechenmaschine 1941 und dem Start des Internets als Arpanet 1969 war es nur ein kurzer Zeitsprung. Das »Schwarze Gold« hatte eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte ausgelöst – alles, womit wir heute leben und arbeiten, hat irgendwie etwas mit Erdöl zu tun. Das Öl hat eine neue Weltordnung geschaffen, die bis heute anhält. Die exzessive Nutzung von Erdöl wird als einer der Hauptgründe für den Klimawandel angesehen. Die Menschheit hat es geschafft, im Äquivalent gleich mehrere »Vulkane« laufen zu lassen – in Dauerschleife. Es ist scheinbar typisch für uns Menschen, dass wir Maß und Balance nur schwierig einhalten können. Die Massenproduktion im Industriekapitalismus auf Kosten der Natur gipfelt nun in der Ausbeutung persönlicher Daten, dem regelrechten Ausschlachten privater Daten und den daraus erwachsenden Bedrohungen für die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Dies hat das Potenzial, die innere Natur des Menschen zu zerstören.

Unser persönlicher Datensatz, also das neue »schwarze Gold«, welches Google, Facebook und Co. gar so emsig an allen Ecken und Enden aufsaugen, wird zur existenziellen Bedrohung unserer individuellen Einheit, unserer personalen Integrität und damit zur Gefahr für unser Ich, für den Kern unseres Menschseins. Wir haben mittlerweile einen zweiten Schatten, er ist digital. Er ist so messerscharf in der Darstellung unserer Persönlichkeit durch unser Nutzerverhalten, dass nicht selten inzwischen von einer digitalen Identität gesprochen wird. Die aktuelle industriell-digitale Revolution hat uns dabei selbst als Produkte entdeckt. Unsere digitale Identität ist als Massenprodukt geschaffen worden, von Google, Facebook, Amazon und Konsorten. Wir sind die Kunden; und die Produkte sind – wir selbst. Der Kapitalismus hat sich verändert. Zunächst ging es um Profite aus dem Handel mit Produkten, dann aus Dienstleistungen, schließlich aus Spekulationen und jetzt geht es um Profite aus der Überwachung bzw. Analyse unserer persönlichen Daten. Heutzutage haben wir dabei abstrakte Gefahren. Im sogenannten Überwachungs- bzw. Datenkapitalismus werden menschliche Erfahrungen zu Marktgütern gemacht. Das hört sich erst einmal harmlos an – das Gegenteil aber ist der Fall. Der Datenrohstoff daraus führt nämlich in gewisser Weise zur Kontrolle unserer Zukunft – Verhaltensdaten der Nutzer werden auf vorhersagekräftige Muster analysiert.

Die gigantischen Kräfte der Künstlichen Intelligenz, des Datenkapitalismus und des Digitalismus müssen gezähmt werden. Sie müssen auf eine Art und Weise gezähmt werden, dass sie die menschliche Freiheit unterstützen und fördern. Es geht also um den Grundsatz, vom Individuum her auf das Kollektiv zu denken, und nicht umgekehrt. Insbesondere Individualrechte, Partikularrechte und – nicht zu vergessen – die Privatheit sind die Wiege der Demokratie, der Freiheit und der Zivilisation. Eine schrittweise Auflösung der Individualrechte, indem wir die Kontrolle über uns abgeben, weil es bequem ist, birgt die Gefahr des Verlusts von dem, was uns als Zivilisation ausmacht: freie und selbstbestimmte Menschen in kooperativer Verantwortung. Niemand konnte ahnen, was die Digitalisierung zur Folge haben würde, dass wir heute, knapp 70 Jahre später, mit unseren Smartphones und dem Internet geradezu verwachsen sind. 

Heutzutage ist es in vielen Regionen der Welt einfacher, an ein Smartphone zu kommen als an sauberes Trinkwasser.

Die unglaubliche Erhöhung der Rechen- und Leistungskapazität hat die Digitalisierung in jeden Aspekt unseres Lebens einschleichen lassen. Es ist ein Merkmal dessen, was der digitale Fortschritt bedeutet: Einerseits werden für das Individuum unglaubliche Kräfte freigesetzt, die Leben und Arbeiten vollkommen verändern; gleichzeitig ist unsere Abhängigkeit von der Digitalisierung inzwischen so absolut, dass wir nur noch die wenigsten Tätigkeiten im Leben ohne diese Technik ausüben wollen oder können. Natürlich wird uns die Künstliche Intelligenz Türen öffnen, die wir jetzt noch gar nicht sehen können. Die Menschheit wird ihr eigenes Potenzial vervielfachen. Der Mensch muss dabei aber stets selbstbestimmt und frei bleiben. Technologie muss als Gehilfin des Menschseins verstanden werden. 

Im »Informationszeitalter« laufen wir zudem Gefahr, an Informationen so gefesselt zu werden – »wir informieren uns zu Tode« –, dass sie, statt uns zu bereichern, uns Lebenszeit wegnehmen, wenn wir meinen, alles wissen zu müssen, was uns dargeboten wird. Im digitalen Informationszeitalter werden wir regelrecht überflutet mit widersprüchlichen Nachrichten, die uns oftmals den Mut rauben, eine eigene Meinung zu bilden und diese dann auch offen zu vertreten. Leichter ist es natürlich, eine andere Meinung zu »liken« oder eben einfach nur stumm und »erschlagen« dazusitzen. Hinzu kommt noch das Dauerfeuer aus banalem Unsinn – online jede einzelne Sekunde. Alle wollen unsere Aufmerksamkeit wie auf einem billigen Jahrmarkt erheischen und das in einer Taktung, die uns krank zu machen scheint. Insbesondere Fake News und ihre inflationäre Verbreitung gefährden zunehmend auch unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität unserer Demokratie. Es ist dabei sicherlich auch nicht hilfreich, dass viele Menschen heutzutage allein vor ihren technischen Geräten wie Smartphone oder Laptop sitzen und in den sozialen Medien eine vermeintlich optimierte Version ihrer Selbst kreieren – und sich dabei abgekapselt in digitalen Echokammern und Filterblasen „gemütlich“ wie zu Hause fühlen – in einer zweifelhaften Ersatzheimat. Die Lösung für die Informationsflut wird erst recht die Digitalisierung sein, indem mit Künstlicher Intelligenz und Filtern noch stärker gearbeitet werden muss als bisher.

Wer aber die Algorithmen und die Filter beherrscht, beherrscht letztendlich das Geschehen. 

Unsere innere Freiheit wird mehr denn je benötigt. Es gibt keinen Bereich des Lebens mehr, der nicht mit dem Internet verbunden ist. Es wird alles archiviert und nichts vergessen. Dadurch ist aber auch vielleicht nichts mehr wirklich von Wert. Die Digitalisierung der Persönlichkeit als Konsumware ist längst Realität geworden. Wichtig ist, sich dabei nicht selbst zu konsumieren, indem man sich auf der Suche nach sich selbst buchstäblich aus den Augen verliert. 

Um dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen, ist es bei Weitem nicht ausreichend, die Welt ständig weiter ohne »Geistiges Band« in ihre Einzelteile – in ihre Datensätze – zerlegen zu können. Es gilt, auch unser Denken, Fühlen und Handeln wieder miteinander zu verbinden und in Einklang miteinander zu bringen.

Persönlichkeitsentwicklung als Freiheitskampf zwischen Posthumanismus, Überwachungskapitalismus und autoritären Systemen

„So wie die Industriezivilisation auf Kosten der Natur florierte und uns heute die Erde zu kosten droht, wird eine vom Überwachungskapitalismus und seiner instrumentären Macht geprägte Informationszivilisation auf Kosten der menschlichen Natur florieren, womit sie uns unser Menschsein zu kosten droht.“
Prof. Dr. Shoshana Zuboff, amerikanische Ökonomin 

Früher sprach man fast schon ehrfürchtig vom „schwarzen Gold“ – gemeint war damit das Erdöl als Triebfeder für einen fundamentalen Strukturwandel in den Industrieländern. Dieser Strukturwandel war schnell, radikal und hat unser Leben dramatisch verändert. Alles begann letztlich 1859. In diesem Jahr wurde in Titusville, Pennsylvania, eine ergiebige Ölquelle gefunden und man erlebte dort den ersten Ölboom der Geschichte. Nicht umsonst wird die Stadt als Geburtsort des Erdölzeitalters angesehen. Das Öl kam genau zur rechten Zeit. Der Amerikanische Bürgerkrieg ging 1865 zu Ende und nun nahm die Industrialisierung richtig an Fahrt auf. Der Boom wirkte sich auf die ganze westliche Welt aus, welche die Folgen der Französischen Revolution langsam überwunden hatte und die neue Weltordnung des industriellen Zeitalters annahm. 

Mit dem Rückenwind der Einwanderungswellen aus Europa und der Erschließung des Westens entstand ein riesiger Markt. Dann trat auch noch John D. Rockefeller auf den Plan. Seine Familie stammte ursprünglich aus Rockenfeld, einer Wüstung im Neuwieder Stadtteil Feldkirchen in Rheinland-Pfalz; sie wanderte nach Amerika aus und ließ sich in Germantown, Pennsylvania nieder. John D. Rockefeller stieg in den Ölhandel ein und wurde mit seiner Standard Oil Company, dem ersten multinationalen Konzern, zum ersten Milliardär der Weltgeschichte und galt als der reichste Mensch der Neuzeit. Heute heißen die reichsten Menschen der Welt Jeff Bezos, Bill Gates, Mark Zuckerberg und Konsorten; sie handeln nicht mehr mit Öl, sondern letztlich mit Daten, nämlich mit unseren intimsten persönlichen Daten. Kein Wunder, wenn man von diesen Daten heute als dem neuen „schwarzen Gold“ spricht. Rockefellers Standard Oil Company war einst so mächtig, dass es zur ersten Anti-Monopol-Gesetzgebung der USA kam und Standard Oil zerschlagen wurde. Geschichte wiederholt sich. Zumindest wird die Kritik an beispielsweise Jeff Bezos´ Amazon oder an Mark Zuckerbergs Facebook immer lauter. Nicht umsonst fordert Tesla-Chef Elon Musk die Zerschlagung des weltgrößten Onlinehändlers Amazon. Unter seinem Twitter-Account schreibt Musk: „Es ist an der Zeit, Amazon aufzuspalten. Monopole sind unrecht!“. Einzelne Tech-Konzerne sind inzwischen größer als ganze Volkswirtschaften. Beispielsweise bringen die Börsenwerte von Alphabet, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft zusammen mehr auf die Waage als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Deutschland im Vergleich, also mehr als hierzulande in einem Jahr an Gütern und Dienstleistungen produziert wird. 

Es geht aber nicht um die schiere Macht von Wirtschaftsmagnaten. Ob ein Jeff Bezos nun ein Buch aus seinem Amazon-Sortiment verbannt, weil es ihm persönlich nicht gefällt oder ob er mit seiner „Washington Post“, die er sich 2013 für 250 Millionen US-Dollar einfach mal so gekauft hat, zur vermeintlich gewichtigen Stimme in gesellschaftlichen und politischen Debatten wird, ist nicht die eigentliche Gefahr. 

Es geht vielmehr um den Kern des abendländischen Erbes, um das humanistische Menschenbild, um unser Recht auf Freiheit, dass wir unser Leben und alle Entscheidungen, die dieses Leben beeinflussen, selbst bestimmen können. Die eigentliche Gefahr ist, dass wir diese Errungenschaft verlieren. Wir finden uns momentan mit der digitalen Revolution konfrontiert, über deren Beginn, Verlauf und Ende wir uns noch nicht einmal einig sind. Unsere innere Freiheit wird mehr denn je in unserer – vor allem digitalisierten – Welt benötigt. Es gibt keinen Bereich des Lebens mehr, der nicht mit dem Internet verbunden ist. Es wird alles archiviert und nichts vergessen. Dadurch ist aber auch vielleicht nichts mehr wirklich von Wert – zumindest könnte man das zynisch anmerken. Die Digitalisierung der Persönlichkeit als Konsumware ist längst Realität geworden. Wichtig ist, sich dabei nicht selbst zu konsumieren, indem man sich auf der Suche nach sich selbst buchstäblich aus den Augen verliert. Was bleibt am Ende von der Würde des Menschen übrig zwischen Digitalisierung und Posthumanismus?

Jeder Mensch ist einzigartig, mit Rechten, Pflichten und Privilegien versehen, unabhängig von Geschlecht, Religion oder Herkunft. Das ist auch die Basis unseres Selbstverständnisses und letztlich dessen, was insbesondere die Kultur und Identität Europas ausmacht und im europäischen kulturellen Gedächtnis fest verankert ist. 

Der zentrale Schlüsseltext für das Humanismus-Verständnis stammt von dem Renaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola. Es war eine Rede unter der Überschrift „De hominis dignitate“ („Über die Würde des Menschen“), die er 1486 verfasste und in der er die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Welt stellte und die Willensfreiheit als charakteristisches Merkmal des Menschen hervorhob. Jede Generation muss sich damit auseinandersetzen und unter ihren Vorzeichen damit umgehen.