Vom Fort-schritt von der Mitte

Ist uns eigentlich schon aufgefallen, dass wir in den letzten 100 bis 200 Jahren lauter Erfindungen gemacht haben, die Zeit sparen (sollen), wie Telefon, Telegraph, Telex, Telefax, Eisenbahn, Automobil, Computer, Internet, Künstliche Intelligenz, etc., dass wir aber so gut wie alle sehr viel weniger Zeit haben als die Menschen, die vor diesen Erfindungen lebten?

Allein der Digitalkapitalismus überfordert uns bereits heute: zwischen Massen an Informationen, Daten und virtuellen Welten geht der Blick für das Wesentliche verloren. Wir verlieren uns selbst zwischen Konsum und gesellschaftlichem Wandel.

In diesem Spannungsfeld stellen sich die entscheidenden Fragen: Was macht mich als Menschen einzigartig? Was hat uns zu dem gemacht, was wir sind? Was sind wir morgen? Woher komme ich, wohin gehe ich? Und: Wie bleibe ich frei und selbstbestimmt? Wir müssen uns als Einzelne und als Gesellschaft neu verorten: Im Mittelpunkt allen Handelns steht das Individuum, mit allen Rechten und Pflichten. Gleichberechtigt und bereit, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.

Erschwerend kommt aktuell hinzu, dass sich unsere Welt noch nie so schnell verändert hat wie in den letzten zwei Jahrhunderten – und das Tempo nimmt noch an Fahrt auf. Betrachten wir nur die letzten zwei bis drei Jahrzehnte, was Internet und Mobilfunk mit uns angestellt haben – in weniger als einer Generation. Fest steht: Arbeit wird zunehmend automatisiert, Geld virtualisiert und ganz allgemein steht uns eine Künstliche-Intelligenz-Revolution bevor. Alles Bewährte, Bekannte und Gewohnte scheint hier regelrecht zu verdampfen. Irgendwie hat man den Eindruck, dass wir die Fliehkräfte austesten wollen – mit ungewissem Ausgang. Strukturen wie beispielsweise Familie und Kirche haben massiv als Orientierung und als Rückhalt an Bedeutung verloren und neue sind nicht wirklich in Sicht. Die Frage nach Identität und was menschliches Dasein wirklich bedeuten kann, rückt verständlicherweise mehr denn je in den Mittelpunkt.

Im sogenannten „Informationszeitalter“ werden wir an Informationen so gefesselt, dass sie uns Zeit wegnehmen, wenn wir meinen, alles wissen zu müssen, was uns dargeboten wird.

Es braucht einige Zeit, um sich von solchen Gewohnheiten zu lösen, die zu Zwängen geworden sind, und ferner zu erkennen, dass Informationen nicht dasselbe sind wie heilsames Wissen oder gar Weisheit.

Heute suchen viele Menschen wieder dieses verlorene Verweilen, das zugunsten einer angeblichen „schöpferischen Unruhe“ aufgegeben worden ist. Diese endet, wenn sie nicht weiß, was sie tun soll, im Aktionismus. Da das Getane nicht sinnvoll ist und nur dafür sorgt, in Bewegung zu bleiben, ist es lediglich ein Rennen, ein Davonrennen, ein Rasen. Es sind viel weniger die Sachzwänge als wir selbst, die uns hetzen, zum Fortschritt zwingen. Fortschritt ist ein verkanntes, aber verräterisches Wort, denn hier wird nicht auf ein Ziel zugeschritten, sondern von etwas – wohl von der Mitte, die der Meditierende wieder sucht – „fort“ geschritten. Die Ambivalenz dieses „Fortschritts“ ist uns trotz aller hilfreichen Erfindungen langsam klar geworden.

Aber die Ursachen, besser der Verlust jener Mitte, jenes Grundes, von dem wir uns dabei entfernen, sind noch lange nicht erkannt – und auch in der Tat schwer zu erkennen, wenn man sie zu Wort bringen will. Sie liegen auch tief im technisch-naturwissenschaftlichen Denken verborgen, das uns so viel Erfolge auf einer bestimmten Ebene gebracht hat, aber die Welt in einer Weise vergegenständlicht, entseelt und entmenschlicht, dass sie leer und öde wird, nicht nur gottlos („Gott ist tot“), sondern „tote Materie“, eine Summe von „Stoffen und Kräften“, die wir durch Erkenntnis der „Ursachenketten“ nach Belieben berechnen und manipulieren können, so dass sie uns außer Zahlen und Fakten „nichts mehr zu sagen“ haben und die Dichter, die sie einst besangen, vermeintlich im Unwirklichen herumphantasieren, welt- und realitätsfremd sind.

Johann Wolfgang von Goethe scheint unser rasendes Informationszeitalter vorausgeahnt zu haben, als er in seinen „Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten“ dichtete:

„Mich ängstigt das Verfängliche
Im widrigen Geschwätz,
Wo nichts verharret, alles flieht,
Wo schon verschwunden, was man sieht;
Und mich umfängt das bängliche,
Das graugestrickte Netz.“

Der Preis für die großartigen Erfolge und all die Macht, die wir heute durch Technik und Naturwissenschaft haben, ist hoch, sehr hoch. Jedenfalls solange nicht deren Wesen erkannt wird und damit deren Grenzen gesehen werden. Nur so lassen sie sich wieder in ein menschlicheres, nicht nur kausales und funktionales Weltverständnis von der „großen Weltmaschine“ einbetten.  Es geht nicht darum, Technik und Naturwissenschaft zu leugnen oder abzuschaffen – wir brauchen sie –, aber im Hegel’schen Sinne sollten wir sie „aufheben“, also zugleich überwinden und bewahren.

Es ist Zeit für eine zweite Aufklärung.