Der Humanismus der Renaissance und die Freimaurerei

Der Mensch soll sich seiner Begierden entledigen, den Wissenschaften nachgehen, die Moral als sein Gewissen und die Logik als seine Vernunft nutzen, um die Erleuchtung zu erfahren und zu Gott aufzusteigen. Dieser dreistufige Prozess ist mit der Idee des freimaurerischen Erkenntnisweges mehr als nur eng verwandt. Das ist kein Zufall, denn der Humanismus der Renaissance ist eindeutig im freiheitlichen Menschenbild der Freimaurerei übernommen worden.

Der »Phoenix der Geister«, ein bewunderter Gelehrter, ein Schöngeist und ein Menschenfreund: So feierte man bereits zu Lebzeiten Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494). Er war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 23 Jahre alt. Als jüngster Sohn des Grafen della Mirandola war Giovanni ein wahres Wunderkind, das schon mit vierzehn Jahren bestens mit der klassischen Philosophie vertraut war. Das Leben eines Klerikers, wie seine Eltern es ursprünglich für ihren Sohn vorgesehen hatten, war nichts für ihn. Stattdessen stu- dierte er Rechtswissenschaften und Philosophie. Von Bologna nach Florenz übergesiedelt fand er schon rasch im Kreise des Lorenzo il Magnificos Anschluss, welcher der berühmten Familie der Medici entstammte. Als Förderer der Künste war Lorenzo einer der reichsten und mächtigsten Menschen Europas. Der geistige und kulturelle Einfluss der Medici ging weit über die Grenzen Italiens hinaus, beeinflusste alle Denker, Gelehrten, aber auch die Einflussreichen, Reichen und Mächtigen jener Zeit, der Renaissance.

Mit dem Buchdruck wurden die griechischen Schriften und die der Humanisten in der Welt der Gelehrten bekannt. Im 15. und 16. Jahrhundert fand man an vielen Universitäten Humanisten, sodass der Humanismus auch viele spätere Reformatoren prägte. Italien spielte eine bedeutende Rolle bei seiner Verbreitung. Den Gelehrten ging es um das alte Wissen in seiner Reinform. Mit viel Geld und Mühe machten sie verloren geglaubte literarische Werke allgemein zugänglich. Das Kulturelle Gedächtnis Europas erlebte somit einen Boom der Wiedergeburt – die Erkenntnisse über Zusammenhänge und Auswirkungen von Religion, Tradition und Geschichte waren kein Herrschaftswissen mehr, das in seltenen Ausgaben handschriftlich auf Pergament überliefert wurde, sondern ein Kulturgut, das immer mehr Menschen offenbart wurde.

Die Familie der Medici gehörte zu den größten Förderern von Kunst, Literatur und Wissenschaft. Florenz entwickelte sich zum damaligen Zentrum des Humanismus, der Kultur und der Schönen Künste. Giovanni stieg trotz seiner jungen Jahre rasch zu einem gut vernetzten Universalgelehrten auf. Mit nur 24 Jahren hielt er seine Gedanken zur Würde des Menschen schriftlich fest. Er setzte den Schwerpunkt auf die Freiheit des Menschen, der seinen Platz in der Schöpfung selbst findet und besetzt, also selbst Gestalter seines Lebens ist.

Wie auch der geistige Vater der Gotik, Abt Suger von Saint-Denis, hatte Mirandola den Pseudo-Dionysius Areopagita gelesen und daraus seine Schlüsse über den Platz des Menschen im Kosmos und sein Verhältnis zu Gott gezogen. Der Mensch als Abbild Gottes hat demnach eine besondere Würde und Freiheit inne – die Menschenwürde. Gott als der höchste Baumeister hat den Tempel seiner Schöpfung zuletzt mit dem Menschen versehen, ihm jedoch keinen festen Wohnsitz in diesem Tempel zugeteilt, auf dass er sein Leben so gestalten könne, wie er es sich wünsche. Adam als Archetyp steht es demnach frei, sich zum Göttlichen zu erheben oder zum niedrigsten Geschöpf hinab zu entwickeln.

Der Mensch soll sich seiner Begierden entledigen, den Wissenschaften nachgehen, die Moral als sein Gewissen und die Logik als seine Vernunft nutzen, um die Erleuchtung zu erfahren und zu Gott aufzusteigen. Dieser dreistufige Prozess ist mit der Idee des freimaurerischen Erkenntnisweges mehr als nur eng verwandt. Das ist kein Zufall, denn der Humanismus der Renaissance ist eindeutig im freiheitlichen Menschenbild der Freimaurerei übernommen worden.

Der Humanismus hat seine Ursprünge im antiken Griechenland, auch Mirandola war ein begeisterter Leser der antiken Werke. Welcher Staat ist für die Menschen der richtige? Was ist das Gute und was ist das Glück? Wie dienen Gesetze dem Menschen, und wie sieht die ideale Gesellschaft aus? Diese Fragen hatten sich im antiken Griechenland insbesondere durch die Kulturkrise nach dem Peloponnesischen Krieg ergeben. Mit Platon und Isokrates begann ein neues Kapitel im kulturellen Austausch zwischen Ägypten und Griechenland. Die Philosophen stellten diese grundlegenden Sinnfragen und suchten Antworten in der Weisheit des Nils. Als die Ptolemäer die Herrschaft über das alte Pharaonenreich erlangten, war die Verbindung aus dem progressiven Denken der Hellenen und dem mystischen, traditionellen und staatsdienenden Verständnis der Ägypter perfekt. Das Kind dieser Verbindung ist der paneuropäische Hellenismus – die Wiege des Abendlandes und des modernen Humanismus.[1] Es geht dabei um den Gedanken der Kulturerziehung und Menschenbildung im Zusammenspiel mit dem Geist der übrigen Völker des europäischen Kulturkreises.

Wie eng Freiheit und Humanismus zusammenliegen, zeigt sich in Platons Politeia, indem er fragt: »Wohlan denn, lieber Freund, welches ist wohl die Art, wie die Tyrannei entsteht? Denn dass sie sich aus der Demokratie abändert, ist wohl fast offenbar!«[2] Das Schicksal des Einzelnen ist nicht nur bestimmt durch Staat und Herrschaft, sondern vor allem durch die übergeordnete Ansicht dessen, was ein gutes, menschenwürdiges, nützliches und freies Leben sei. Freiheit braucht einen Rahmen, um nicht missbraucht zu werden – die Humanität.

Doch das tiefergehende Streben um Menschlichkeit verblasste über die Jahrhunderte, es war in anderer Form in der Entstehung der christlichen Mystik eingeflossen. Erst im 14. Jahrhundert wurde in Italien den originalen Schriften der antiken Autoren wieder mehr Beachtung geschenkt. Es war der Beginn einer neuen Gelehrsamkeit. Es begann eine umfassende Rückbesinnung auf die Antike, sowohl in der Kunst als auch in der Architektur. Das, was wir heute allgemein unter Humanismus verstehen, kann auch als Synthese aus dem Humanismus der Antike und dem christlichen Menschendbild bezeichnet werden. Die Wiedergeburt der Welt der Antike ist die Suche nach dem eigenen Ursprung. Es geht dabei um den Ursprung der Kultur, aber auch der Religion und des eigenen Ichs.

Bereits begrifflich richtet sich der Humanismus direkt an den Menschen, an seinen Geist, sein Wesen, seine Seele und seinen Verstand. Der einzelne Mensch steht also im Vordergrund. Zu den Prinzipien des Humanismus gehören unverzichtbar Meinungsfreiheit und Toleranz. Dazu gesellen sich auch Güte, Mitgefühl und Freundlichkeit. Der Mensch sollte an sich arbeiten und seine Fähigkeiten voll entfalten. Auf diesen Grundlagen soll das menschliche Zusammenleben beruhen. Der Humanismus ist also der Grundpfeiler der Demokratie. In Deutschland beschäftigte sich Nikolaus von Kues (Cusanus) intensiv mit den Ideen des Humanismus; als erster deutscher Humanist gilt bis heute Johannes Reuchlin aus Pforzheim, Großonkel Philipp Melanchthons. Der schwäbische Gelehrte war vor allem von den italienischen Humanisten inspiriert, die sich um die Medici versammelt hatten. In Deutschland gehörten ferner Ulrich von Hutten und der Wegbegleiter Martin Luthers, Philipp Melanchthon, zu den Befürwortern und Vertretern des Humanismus.

Der Buchdruck wurde über die Jahrhunderte mehr und mehr das analoge Internet: So schnell eben ein Mensch eine Druckmaschine bedienen und ein Pferd reiten kann, wurden Gedanken, Informationen und Nachrichten verbreitet. Für die Entwicklung der Demokratie war der Buchdruck eine grundlegende Bedingung. In den damals noch britischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent hatten sich im 18. Jahrhundert immer mehr Zeitungen und Verlage gegründet, aber auch privat wurde reichlich gedruckt und veröffentlicht. Nun wurden die Ideen des Humanismus, der Aufklärung und die daraus resultierenden politischen Ansprüche des Bürgertums in alle Ecken des Landes verteilt, zugänglich für jeden, der lesen konnte. Es war die logische, ja einzige Folge dessen, was durch den Buchdruck und den Humanismus Jahrhunderte zuvor in die Gesellschaft gesät wurde: freies Denken, für freie Menschen, die gleichwertig leben und handeln wollen. Diese Ideen kamen mit der Demokratie als Trägerin zurück nach Europa und zündeten den Funken für die großen Revolutionen der Moderne, den Kampf um Freiheit und um die Anerkennung der Rechte des Individuums.

Das in der deutschen Klassik durch Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe hin zu Friedrich Schiller und Friedrich Hölderlin geprägte Menschenbild erkennt den mündigen Menschen im Zusammenwirken von Vernunft und Sinnlichkeit. Es entdeckt so- zusagen den freien und selbstbestimmten Menschen. Der Mensch steht im permanenten Widerspruch zu jeder Form von kirchlicher oder staatlicher Bevormundung. Er strebt danach, die Welt menschenwürdiger zu gestalten. So wird der Humanismus immer von der jeweiligen Zeit und Gesellschaft geprägt sein, so auch in den Menschenrechten, wie sie in der französischen Nationalversammlung 1789 gefordert und 1791 in der amerikanischen Verfassung verwirklicht worden sind.


[1] Assmann, Jan: Weisheit und Mysterium. Das Bild der Griechen von Ägypten, Verlag C. H. Beck, München 2000, S. 31 f.

[2] Platon, Sämtliche Werke, Band 2, Rowohlts Enzyklopädie, Hrsg. Burghard König, Reinbek bei Hamburg, 30. Auflage 2004, Politeia 562a, Seite 471