Das Erbe der Freiheit – das humanistische Menschenbild

Wer nicht weiß, woher er kommt, kann nicht wissen, wohin er geht. Wir finden den Ursprung unseres Weges in Europa in unserer abendländischen Kultur. Es ist eine griechisch-römische und jüdisch-christliche Kultur, die ihren folgerichtigen Übergang zu Freiheit, Menschenrechten und Demokratie durch die Aufklärung fand. Respekt vor der gleichen Würde jedes Menschen und sozialer Zusammenhalt, im Geist von gegenseitigem Vertrauen und Nächstenliebe, bilden den Kern. Das sind fundamentale und auch universale Werte. Es lohnt sich, diese Werte auch in Zukunft zu leben. Der Humanismus ist dabei keine Selbstverständlichkeit. Er muss gelebt werden, ansonsten kann das einzigartige Menschenbild verschwinden. Der griechische Philosoph Platon sprach von der Idee des Menschen und biblisch lässt sich das mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen ausdrücken. In der Gottebenbildlichkeit liegt die theologische Begründung der Menschenwürde – insbesondere seit dem Renaissance-Humanismus – und ideengeschichtlich stellen die Gottebenbildlichkeit und die daraus ableitbare Menschenwürde eine Basis für die Entstehung der Menschenrechte dar. Damit ist auf einer gewissen Abstraktionsstufe ein Begriff geprägt, der menschliches Handeln und Ordnung miteinander verknüpft und damit Recht, Moral, Staat und Weltbild auf eine gemeinsame Grundlage stellt. Diese Idee als Inbegriff aller Normen, Verpflichtungen und Axiome, die das menschliche Leben in den sozialen und politischen Ordnungen des Zusammenlebens steuern, deckt sich mit dem, was auch humanistisch abendländische Kultur genannt werden könnte. Als einen wesentlichen Entwicklungsschritt und Höhepunkt unserer Kultur beziehungsweise der europäischen Geistesgeschichte und des sich daraus entwickelnden Humanismus erkennen wir immer noch die Zeit der Renaissance und der Aufklärung an. Sie leitete letztlich die Geburt der Revolutionen für mehr Freiheit und Menschenrechte ein. Nicht umsonst steht die Würde des Menschen an erster Stelle im deutschen Grundgesetz.

Es ist und bleibt immer die gleiche Herausforderung: Wie wird Humanismus gelebt? Der zentrale Schlüsseltext für das Humanismus-Verständnis stammt von dem Renaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola. Es war eine Rede unter der Überschrift „De hominis dignitate“ („Über die Würde des Menschen“), die er 1486 verfasste und in der er die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Welt stellte und die Willensfreiheit als charakteristisches Merkmal des Menschen hervorhob. Jede Generation muss sich damit auseinandersetzen und unter ihren Vorzeichen damit umgehen:

»Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.«

Gottvater, der hier spricht, hat dem Menschen nicht den freien Willen überlassen, sondern umgekehrt – er hat dem freien Willen den Menschen überlassen. Was kann diese ungewöhnliche Formulierung bedeuten? Den freien Willen bestimmt nicht einfach so der Mensch, sondern er unterstellt sich diesem. Hört sich paradox an, ist es aber nicht, obwohl schwer mit dem Verstand greifbar. Freier Wille bedeutet also nicht, der Mensch kann tun und lassen, was er will und wie es ihm beliebt oder dass er sich als »Übermensch« über alle und alles erhebt; er könnte es natürlich schon, dann entwickelt er sich aber nach »unten«. Die Idee ist deshalb wahrscheinlich eine andere. Es könnte viel mehr bedeuten, sich seinem freien Willen zu unterstellen, diesen immer wieder durch Arbeit an sich selbst, durch (Selbst)reflexion, zu erarbeiten und zu prüfen. Diese Entscheidung verwirklicht sich in seinem Tun und Wirken, wie es bei dem sokratischen Dialog aufgezeigt wird. Dabei geht es um einen tiefen Blick in sein Innerstes. Meinungen und Glaubensinhalte sollen hinterfragt und der Mensch soll sich seiner Unwissenheit bewusst werden. Dabei sollen wir also unser Wissen weiterentwickeln und uns unserem eigentlichen Wesen annähern. »Dir selbst deine Natur bestimmen«, wie es in Picos Rede heißt, ist damit gemeint. Dieser Weg bringt uns schließlich dazu, eigenständig zu denken und unsere Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Nach Aristoteles entwickelt sich der höchste Sinn des Lebens aus dem tugendhaften Handeln im Alltag. 

Die Fragen nach dem richtigen Leben und dem Glücklichsein stellen sich seit der Antike, eigentlich seit dem Beginn der menschlichen Zivilisation. Der Quantensprung des antiken Griechenlands, der verblüffender Weise auf nur wenige kluge Köpfe zurückzuführen ist, bildete das Fundament dessen, was uns heute ausmacht. Ohne dieses würde es heute keinen Humanismus, keine Menschenrechte und keine Demokratie geben.

Das Menschsein wird immer in Bewegung sein. Hier wird unser Blick für das geöffnet, was uns ausmacht und was unser innerstes und ureigenstes Bestreben ist. Das Bestreben, stets an sich zu arbeiten und morgen ein besserer Mensch zu sein als gestern, ist nichts anderes als das ewige Streben nach einem unerreichbaren Ideal. So wenig wie ein Mensch vollkommenes Glück erringen kann, so unmöglich ist es ihm, in allen Belangen perfekt zu sein. Beiderlei Streben sind jedoch der Weg, um glücklich zu leben.

Die Tugenden sind Werkzeuge, um diesen Weg beschreiten zu können. Mit ihnen schnüren wir unsere Wanderstiefel zu, ziehen den Reißverschluss der Jacke bis an die Nasenspitze hoch und treten zuversichtlich jedem Sturm am Horizont entgegen, der da kommen mag.