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Mystik als Initialzündung eines neuen Denkens

»Lernen ist Erfahrung. Alles andere ist einfach nur Information.« So hat es Albert Einstein ausgedrückt.

Mystik bedeutet Einheitserfahrung, reines visionäres Sehen ist damit übrigens nicht gemeint. Das ist ein wichtiger Unterschied, denn gerne wird der Begriff »Mystik« damit verbunden. Die Definition von Mystik als Einheitserfahrung geht auf Dionysius Areopagita zurück, der diesen Begriff geprägt hat. Durch die Einheitserfahrung, die Transzendenzbezug bedeutet, ist überhaupt erst Selbsterkenntnis – »Ich erkenne mich« – möglich. Durch den Bezug zum Bereich des Objektiven kann man sich selbst relativieren oder eben objektivieren. Man könnte es auch so formulieren, dass jeder Einzelne dadurch seinen Platz in der Welt findet und ihm auch dadurch ein glückliches Leben möglich ist. Der Vorgang des sich Relativierens geschieht nicht in der mystischen Erfahrung selbst, sondern bei deren Reflexion. Das Nachdenken über seine Erfahrung ist dann die Domäne der Vernunft oder der Philosophie; das könnte dann als Erkenntnis bezeichnet werden.

Der platonische Sokrates beschrieb die Seele als das Organ, in dem ein solches Erkennen überhaupt erst möglich ist. So ist das Wort »Seele« zu verstehen – als »das Leben des Geistes«. In der Antike und bei den christlichen Mystikern wurde die Seele als ein Ort bezeichnet, wo dieser Erkenntnisprozess stattfindet. Die Wahrnehmungssphären der Mystik hingegen sind Staunen und Affektivität. Affektivität meint Stimmung oder Gemütsverfassung, in welcher mystische Erfahrungen stattfinden können. Aber auch die Wortbedeutung von Begierde und Leidenschaft wird der Beschreibung von Mystik gerecht. Es ist hier nicht von einer Begierde die Rede, wie wir sie von unserem materiellen Leben her kennen, denn die mystische Erfahrung findet nicht auf einer Ebene statt, die verstandesmäßig erfasst werden kann. Diese Begriffsbedeutungen müssen in diesem Zusammenhang auf einer transzendenten Ebene verstanden werden. Und schließlich ist das Staunen ein ganz zentraler Begriff in der Wissenschaft. Aber zunächst verbinden wir mit dem Zustand des Erstauntseins nicht Wissenschaft und Philosophie. Jeder hat diesen Zustand schon erlebt und weiß, dass er nichts mit Denken oder Verstand zu tun hat. Er hat mit Ergriffenheit zu tun, er hat damit zu tun, dass man sich wie ein Kind fühlt, das von etwas Unbegreiflichem überwältigt ist. Sowohl Platon – »Es ist gar sehr einem Philosophen zu eigen jenes Erleben, das Erstaunen; es gibt nämlich überhaupt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen«[1] – als auch Aristoteles – »Denn aufgrund des Erstaunens begannen die Menschen sowohl jetzt wie auch zuallererst mit dem Philosophieren«[2] – setzten das Staunen als Ursprung von Philosophie überhaupt. Für den deutschen Philosophen Martin Heidegger bedeutet Philosophie, das Selbstverständliche in seiner Fragwürdigkeit zu entdecken.

»Nur wenn wir πάθος (páthos) als Stimmung (dis-position) verstehen, können wir auch das θαυμάζειν (thaumázein), das Erstaunen näher kennzeichnen. Im Erstaunen halten wir an uns. Wir treten gleichsam zurück vor dem Seienden – davor, dass es ist und so und nicht anders ist. Auch erschöpft sich das Erstaunen nicht in diesem Zurücktreten vor dem Sein des Seienden, sondern es ist, als dieses Zurücktreten und An sich halten, zugleich hingerissen zu dem und gleichsam gefesselt durch das, wovor es zurücktritt. So ist das Erstaunen die Disposition, in der und für die das Sein des Seienden sich öffnet. Das Erstaunen ist die Stimmung, innerhalb derer den griechischen Philosophen das Entsprechen zum Sein des Seienden gewährt war.«[3]

Das Staunen beschreibt das Ergriffensein, das Zurücktreten vor etwas rational Ungreifbarem, es geht einher mit Affektivität, und in diesem Moment, wo scheinbar die Zeit stillsteht, findet Erfahrung statt. Das Staunen steht am Anfang jeglicher Erkenntnis.

Werner Heisenberg hatte während eines Erholungsurlaubs auf Helgoland 1925 eine »Erleuchtung«, wie er es selbst beschrieb, und mit dieser Erfahrung, die er dabei machte, nahm seine Arbeit über Quantenmechanik überhaupt erst Gestalt an. »In Helgoland war ein Augenblick, in dem es mir wie eine Erleuchtung kam, als ich sah, daß die Energie zeitlich konstant war.«[4]* Dies ist nur ein – in diesem Fall bekanntes – Beispiel dafür, dass mystische Erfahrung nicht nur in religiösen Zusammenhängen stattfinden muss, sondern in allen Bereichen gemacht werden kann. Durch die Erfahrung, die gemacht wurde, erlebt man einen kleinen Quantensprung – vielleicht sogar im wahrsten Sinne des Wortes.

Wenn Heidegger vom Selbstverständlichen spricht, beschreibt er die eigentliche Aufgabe der Philosophie: Sie denkt über das Selbstverständlichste und Alltäglichste nach, nämlich über das Sein an sich und alles, was darunter verstanden wird: die Existenz des Menschen, die Natur, das Übersinnliche, kurz: über Gott und die Welt. Und die Ursache des Denkens ist laut Heidegger die Stimmung des Erstauntseins, der Ursprung der Philosophie ist das Staunen, wie schon die obigen Zitate von Platon und Aristoteles es zeigen. Heidegger führt also das Denken auf die Stimmung des Erstaunens zurück. Dadurch kann sich das Denken wieder erneuern, oder auch neu geboren werden. Die denkursprüngliche Stimmung des Staunens muss wieder freigelegt werden, um ihre Möglichkeiten freizusetzen, um daraus eine Erneuerung des Denkens zu gewinnen.


[1] Platon: Theaitetos 155 d, S. 2 f

[2] Aristoteles: Metaphysik 982 b, S. 10-18.

[3] Heidegger: Was ist das, die Philosophie?, S. 26.

[4] https://hg-hh.de/schule/ueber-uns/werner-heisenberg, aufgerufen am 22.08.2023.

Auf den Spuren der Schwarzen Madonna

Viele Legenden und Mythen ranken sich um die Schwarzen Madonnen, deren Kult seinen Höhepunkt in Europa in der Romanik und Frühgotik fand. Ihre Blütezeit kann man auf das 11. bis 12. Jahrhundert definieren.

Was hatte die Menschen an diesen schwarzen Statuetten damals so fasziniert, dass ihre Kultstätten z.B. den gesamten Pilgerweg nach Santiago de Compostella säumten und noch säumen? Was macht sie so besonders und warum ranken sich so viele Legenden um sie?

Madonna im Rosenhag um1450

Die Antwort könnte man schon im ungewöhnlichen Aussehen der Schwarzen Madonna finden – denn sie ist ein Gegenentwurf zu den Mariendarstellungen, die ab der Renaissance vorherrschend waren. Diese stellten Maria als hübsches Mädchen, als Jungfrau dar, die einen Säugling auf dem Arm hält und meist einen verklärten Gesichtsausdruck hat. Ganz im Gegensatz zu den Schwarzen Madonnen.

Madonna von Saint-Gervazy, 12. Jh.

Charakteristisch für sie ist – neben ihrer  meist schwarzen Hautfarbe – der gerade, aufrechte Sitz, ihre übergroßen Hände, die das „Jesuskind“ zu schützen scheinen und ihr eher strenges, androgynes Gesicht – weibliche Rundungen fehlen. Die Schwarzen Madonnen sind fast immer aus Holz geschnitzt und sie sind niemals Ikonen. Das „Jesuskind“ ist kein Kind oder Säugling wie in den späteren Darstellungen. Auch steht nicht die Mutter-Sohn Beziehung im Vordergrund, denn sie schauen sich nicht an, die Madonna stillt ihn auch nicht. Der „kleine Mann“ sitzt auf ihrem Schoß, seinen Blick wie sie nach vorne gerichtet. Er hält meist Attribute der weltlichen (Weltkugel) oder spirituellen Macht (Bibel) in seiner Hand. Die Schwarze Madonna wird auch immer in der Blüte ihrer Jahre, als erwachsene Frau dargestellt – ganz im Gegensatz zu den späteren Darstellungen.

Mit am hervorstechendsten ist ihre schwarze Farbe. Warum ist sie schwarz? Natürlich gibt es etliche Madonnen, die erst viel später geschwärzt worden sind, als im 19. Jahrhundert so die Pilgerströme wiederbelebt werden sollten – was auch funktionierte. Auch wurden vor dieser Zeit originale schwarzfarbige Madonnen geweißt. Vielleicht geben die Orte ihres Kultes weiteren Aufschluss.

Diese sind fast ausschließlich vorchristliche Heiligtümer gewesen – wie wohl die Schwarzen Madonnen selber fast nie aus vorchristlicher Zeit oder aus dem Orient stammen, sondern in christlichen Skulpturenwerkstätten hergestellt wurden. Trotzdem sehen wir hier den vorchristlichen Bezug: Die heidnischen Plätze zeichneten sich immer durch einen heiligen Stein (Menhir oder Dolmen), einer Heiligen Quelle oder einem Heiligen Baum aus. Bei diesen Bäumen oder Büschen handelte es sich meistens um einen Schwarz- oder Weißdorn oder eine Stechpalme. Diese Pflanzen hatten immer einen Bezug zur Unterwelt, denn sie waren der Unterweltgöttin Hel zugeordnet. Viele vorchristlichen Göttinnen bzw. Göttinnen aus anderen Kulturkreisen waren schwarz, zu nennen wäre die Göttin Kali oder die Schwarze Annis (keltisches Äquivalent zur Göttin Hel). Die Farbe Schwarz steht archetypisch für Transformation, für Neubeginn, für den Beginn aller Möglichkeiten. Hier findet man den alchemistischen Bezug zu dieser Farbe. In diesem alchemistischen Zusammenhang ist auch die Schwärzung der Seele als wichtiger Prozess der Erneuerung zu sehen. Auch steht diese Farbe als Symbol eher weiblicher Initiationsriten: Der Abstieg in sein Innerstes, der Abstieg in die Unterwelt, das rituelle Sterben (Abstieg in die Unterwelt zur Göttin Hel, was sich im Märchen von Frau Holle widerspiegelt) als unverzichtbarer, schwieriger Schritt auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und Vervollkommnung. Schwarze Madonnen sind bzw. waren häufig in den Krypten von Kathedralen zu finden, das kann man durchaus als symbolischen Abstieg in die Unterwelt deuten.

Die Schwarze Madonna war kein Import der Tempelritter, wie manchmal angenommen wird. Allerdings wurden tatsächlich einige Statuen aus dem Orient zu Zeiten der Kreuzzüge nach Europa gebracht, wo dieser Kult schon seinen Höhepunkt erreicht hatte. Auch gibt es keinen direkten Zusammenhang zu Maria Magdalena, obwohl es in Frankreich viele Kirchen gab, die ihr geweiht waren. Die Templer waren große Verehrer von Maria Magdalena – und auch der Schwarzen Madonna. Vielleicht hat es in dieser Zeit auch eine Überschneidung der Verehrung gegeben. Die Kirchen, die Maria Magdalena geweiht waren, wurden mit dem Verschwinden der Templeritter sukzessive „umgeweiht“, auch der Kult um die Schwarze Madonna hatte zu dieser Zeit seinen Niedergang.

Es gab schon vor den Kreuzzügen regen Austausch mit dem Orient – Pilgerfahrten waren nicht ungewöhnlich und halb Spanien war maurisch. Außer Acht lassen darf man außerdem nicht, dass seit der Spätanike der gesamte römisch-hellinistische Raum ein kultureller und religiöser Schmelztiegel war. Außer dem aufkommenden Christentum existierte neben den keltisch-germanischen Kulten der Isis-Kult, Artemis (Diana)-Kult und Demeter-Kult, Mithras-Kult, Merkur- und Apollo-Kult, um nur einige zu nennen. Auch spielten die ursprünglichen keltisch-germanischen Kulte der Großen Mutter eine entscheidende Rolle, die durch diesen Austausch integriert und miteinander verschmolzen wurden.

Deshalb ist es lohnenswert, einen Blick in den orientalischen Raum zu werfen, denn es finden sich erstaunliche Parallelen zwischen dem Kult der Schwarzen Madonna und dem Isis-Kult.

Isis galt als Souveränin ihres Landes und wurde mit diesem gleichgesetzt – somit repräsentierte sie als chthonische Göttin das beständige, immerwährende Prinzip – während Osiris die Vergänglichkeit darstellte – die Vegetation, die alljährlich durch die Nilschwemme zum Leben kommt und durch die Dürre – repräsentiert durch seinen Bruder Seth – dahingerafft wird. Ägypten wurde als „Schwarzes Land“ (khemet) bezeichnet – somit war Isis – symbolisch gesehen – auch schwarz.

Parallelen sieht man bei der Innana-Ishtar-Mythologie: Der Abstieg in die Unterwelt der Innana gleicht einer Initiation, einem (rituellen) Tod, dem ein geläuterter Aufstieg als Neubeginn in der Welt der Lebenden folgt. Als Pfand oder Tribut für die Unterwelt wird vereinbart, dass der Gefährte der Göttin einen Teil des Jahres in der Unterwelt verbringt. Der Gefährte steht – wie Osiris – für Vegetation – so sind dem Mythos nach die Jahreszeiten entstanden. Dieser Mythos spiegelt sich sowohl in der Demeter-Sage wider (ihre Tochter Persephone verbringt einen Teil des Jahres in der Unterwelt), als auch in der keltischen Glaubenswelt: Die Große Göttin erwählt für die Vegetationsperiode einen Gefährten (Grüner Mann oder der Gehörnte), der am Ende dieser einen rituellen Tod sterben muss. Dieser Gefährte ist für diese Zeit – wie auch Osiris – der König.

Göttinnen dieses Kulturkreises, z.B. die altassyrische Göttin Anat, Isis, Artemis (Diana) galten auch als Jungfrauen, bzw. sie verloren niemals ihre Jungfernschaft, obwohl z.B. Anat Geliebte aller Götter war oder als Jungfrau die Gottesgebärerin (Isis).

Auch die von Bernard von Clairvaux definierten Titel der Schwarzen Madonna – Stella Maris, Sedes sapientiae und Regina coeli (Stern der Meere, Sitz der Weisheit, Himmelsgöttin) sind Bezeichnungen, die Isis inne hatte (Isisverehrung in Heliopolis). Diese Begriffe wurden ab dem 3. Jh. n. Chr. von Origines auf Maria übertragen, bis dahin kannte kein Kirchenvater ihre dauernde Jungfernschaft. Ab dem Konzil von Ephesos 431 n. Chr. war Maria offiziell „Gottesgebärerin“ und „Gottesmutter“. Diese Titel scheinen also keinen christlichen Ursprung zu haben, denn es ist auch in der Bibel von keiner besonderen Verehrung von Maria die Rede.

Der Isis-Mythenzyklus ist seit dem 5. Jahrtausend. v. Chr. belegt – als Kult dauerte er bis ins 6. nachchristliche Jahrhundert und war in der gesamten hellenistisch-römische Welt verbreitet. Dadurch wurde Isis zu einer allumfassenden transkulturellen Weltgöttin und ihre Theologie hatte universalen Charakter.

Der Isis-Osiris-Kult wurde zu allen Zeiten in Ägypten ausgeübt, wobei Isis als volkstümliche Göttin von allen Bevölkerungsschichten und v.a. von Frauen verehrt wurde – der Osiris-Horus-Kult war den Pharaonen vorbehalten. In der ägyptischen Spätzeit änderte sich das und der Isis-Kult bekam den Charakter einer Erlösungsreligion mit der Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod bei Osiris für alle Menschen. Isis war die Beschützerin und Ernährerin, sie wurde wegen ihrer Mütterlichkeit verehrt. Die ihr dargebrachten Gebete ähneln sehr den Mariengebeten. In der späteren Isisreligion gab es Offenbarungen, feste Traditionen, Exerzitien, Fasten, Andachtszeiten, eine alle  Tempel umfassende Kirchenorganisation – und es gab keine sozialen oder ethnischen  Unterschiede. All diese Attribute finden sich auch in der Organisation der christlichen Kirchen wieder.

Madonna v. Orcival, 12. Jh.

Isis und Osiris

Isis bedeutet „Thronsitz“ (altägyptisch: Aset). Schon seit dem Alten Reich wurde Isis als diejenige dargestellt, die den König legitimiert: Wer auf dem Thron resp. auf ihrem Schoß sitzt, ist Pharao.

Plutarch (1. bis 2. Jh. n. Chr.) sah in dem Namen Isis die griechischen Wurzeln für Weisheit. Somit hatte er dem Begriff „Thronsitz“ mit dem Attribut „Weisheit“ als „Sitz der Weisheit“ (Sedes sapientiae) eine neue Bedeutung gegeben.

Auch die Titel „Stella Maris“ und „Himmelskönigin“ für Maria sind Bezeichnungen, die vorher neben Isis auch Astarte, Innana – Ischtar (sie wurde immer mit einem Stern dargestellt) wie auch Venus und Aphrodite inne hatten. Diese Göttinnen galten auch als Beschützerinnen der Seefahrer –  ein weiteres Attribut, welches in späteren Zeiten Maria zugeschrieben wurde.

Man kann also durchaus sagen, dass der „Archetypus“ der Schwarzen Madonna aus europäischen und ägyptisch-orientalischen Einflüssen entstanden ist. Der Kult ging wahrscheinlich von den vorchristlichen Isis-und Artemis-Kulten (die wahrscheinlich mit dem keltischen Kult der Großen Mutter vermischt wurden) mit dem aufkommenden Christentum eine Art Synergie ein: Man nannte diese Statuen zwar Madonnen, aber die meisten hatten erst einmal nichts christliches an sich, außer bei einigen die Bibel, die das „Jesuskind“ in einer Hand hält. Ihr gesamtes Erscheinungsbild ähnelt am ehesten der Isis, auf deren Schoß Osiris sitzt und die ihn mit ihren Händen oder auch Flügeln beschützt – Osiris oder Jesus als von ihr legitimierter König der Menschen.